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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Wir hatten das Stück in einem jüdischen Verein, den wir damals ab und zu besuchten, auf die Bühne gebracht. Niso in der Rolle des alten Trödlers. Wir hatten den Text den Bedingungen des Landes angepaßt, in dem wir lebten, und ließen den Trödler, der im Original mit schwerem jiddischen Akzent spricht, mit einem ebenfalls schweren, schon übertriebenen sephardischen Akzent sprechen. Das Ergebnis war äußerst erfolgreich. Alle krümmten sich vor Lachen. Wieder einmal sahen wir, wie gerne Juden sich selbst auf die Schippe nehmen … Natürlich konzentrierte sich das ganze Interesse auf den in dieser Weise sprechenden Niso. Er seinerseits genoß die Aufmerksamkeit. Diese Erfahrungen waren gut, sogar sehr gut, und das kleine Malheur, das in einer der Vorstellungen passierte, sowie der geschickte Umgang damit zeigten uns noch einmal, was für ein Mensch er war. Es gab in dem Stück eine Szene, wo der alte Trödler in dem Haus, wo er Sachen kaufen will, in aller Ruhe sein Mittagessen verzehrt, das er in seiner Tasche mitgebracht hat. Es war sehenswert, wie er jedesmal ein hartgekochtes Ei ganz langsam pellte und aß. Eine unserer Kameradinnen hatte die Aufgabe, vor jeder Vorstellung das Ei zu kochen und in die Tasche zu tun. Sie hatte diese Aufgabe stets erfolgreich erfüllt. Einmal jedoch war es irgendwie passiert, daß das Mädel das Ei nicht richtig gekocht hatte. Das wußten wir natürlich bis zu jener Szene nicht. Niso wollte das Ei wieder ganz langsam zu pellen anfangen, doch plötzlich floß das Eigelb über seine Finger. Da zeigte er sein komisches Talent und fügte dem Text eine Replik hinzu, indem er schnell improvisierte: »Ich sag der Frau, koch das Ei richtig, sie aber hört nicht auf mich, sie macht, wie sie denkt, und tut in Tasche …« Die Zuschauer hielten das für einen Teil der Inszenierung und lachten. Wir selbst konnten uns nur schwer beherrschen, nicht zu lachen. Wir standen ja auf der Bühne. Ich verkörperte die Rolle des Ehemannes der Frau, die die Sachen verkauft. Wir haben wahrlich keine schlechte Arbeit geleistet. Aufgrund der begrenzten Möglichkeiten und unserer Laienhaftigkeit machten wir viele Fehler. Trotzdem brachte uns unsere Begeisterung, unsere Leidenschaft, ein Stück weit vorwärts … Zudem ging es uns ums Theater als solches, das bis zum äußersten ausgekostet werden wollte, die Liebe zum Theater teilte sich begeistert mit und vermehrte sich. Was wollten wir unter jenen Bedingungen in jenen Tagen mehr verlangen …
    Das war es, woran ich mich in jenem Moment erinnerte. Ich zweifelte nicht, auch er erinnerte sich wieder an jene Szene. Seine Antwort zeigte deutlich, daß wir in die gleiche Zeit zurückgegangen waren.
    »Der Trödler spricht Hebräisch mit einem stark jiddischen Akzent. Wie du siehst, habe ich die Sprache so gut gelernt, daß ich sie nachahmen kann …«
    Diese Worte freuten mich, aber wenn ich ehrlich sein soll, machten sie mich auch traurig. Denn ich sah, er hatte die Sprache des Landes, in das er mit neuer Hoffnung, aber gleichzeitig auch mit Ängsten und Enttäuschungen gegangen war, bis zum Niveau eines Theaterstücks erlernen können. Es kam mir vor, als hätte jemand mir meine Geliebte weggenommen. Diese Geliebte gehörte mit einer Seite, und zwar mit einer für mich sehr wichtigen Seite, nämlich der Welt und dem Gefühl der Sprache, zu einem anderen Ort. Sie gehörte damit in eine Ferne, die außerhalb meiner selbst lag, wo ich nicht war und nicht hinkam … Ich fühlte mich durch das Ausgeschlossensein wieder einmal erschüttert. Mir war bewußt, daß es ganz sicher Egoismus war, wenn ich ihn noch immer innerhalb der Grenzen der Sprache halten wollte, durch die wir uns gegenseitig erzogen hatten. Mir war auch bewußt, daß er die Grenze erst nach einem großen Kampf hatte überschreiten können und sich deswegen an seine Erlebnisse klammerte. Was mich traurig und froh zugleich machte, war wohl der Anblick des leicht kindlichen Siegerlächelns auf seinem Gesicht. Ich versuchte, meine Gefühle auszudrücken. Wobei ich meine Traurigkeit lieber für mich behielt …
    »Unglaublich … Es ist dir also gelungen, du hast es geschafft … Als du hier abgereist bist, hast du nicht mal davon träumen können, an so einen Punkt zu kommen … Denk noch mal zurück … Wie gut stehst du jetzt da …«
    Als er diese Worte hörte, schaute er wieder sehr freundschaftlich … Als wollte er erzählen, noch viel mehr erzählen … Ich kannte den Mann, der voller

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