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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Gelegenheiten … Erschien uns nicht in anderen Leben das Übriggebliebene reizvoll, besonders wegen unseres eigenen Unausgelebten? … Zog uns nicht oft das trügerische Gefühl von Verlust an, ja, fühlten wir nicht sogar das Verlangen, uns deswegen in Lügen zu verstricken? … Wir hatten gelebt, was zu leben möglich war, mit Siegen und Niederlagen … Mit unseren Träumen und Geschichten … Warum also überließ ich mich in dem Augenblick diesem Gedankenstrom? … Weil ich die gleiche Angst, die Schatten und Gespenster meiner Vergangenheit, in meiner enttäuschten, verschlossenen Innenwelt stets für mich lebendig erhalten hatte? … Wir hatten verschiedene Kämpfe geführt, wir hatten zweifellos verschiedene Leben gelebt. Doch am Ende waren wir an sehr ähnlichen Punkten angekommen. Diese Angst hatte er als Reaktion auf meine Worte geäußert, mit denen ich gehofft hatte, ihm zu vermitteln, daß er das Richtige getan habe. Die einzige Antwort, die ich ihm auf seine Worte geben konnte, war aber, daß diese Angst auch meine war. Es war die Angst derer, die sich bemühten, sich nicht unterkriegen zu lassen, selbst wenn ihnen Verlassenwerden und Geringschätzung drohten. Ich bemühte mich, ihm diese Seite des Lebens so gut wie möglich zu zeigen.
    »Ich auch … Auch ich habe mich immer gefürchtet … Wäre diese Angst nicht gewesen, hätten wir vielleicht nicht getan, was wir getan haben … Es war ein Gefühl wie Todesangst …«
    Er lächelte. Wie erlösend war es wohl für ihn zu wissen, daß er zumindest in diesem Punkt nicht allein dastand und nicht allein bleiben würde? … Er antwortete nicht. Auch ich traute mich nicht, weiter zu gehen. Es schien, als genügte es uns beiden, hier zu verweilen und uns das gegenseitig fühlen zu lassen. Außerdem war er mit dem, was er erzählen wollte, noch nicht fertig. Wir kamen von den Wehrdienstverweigerern aus Gewissensgründen auf seine etwas vergnüglicheren Erfahrungen als Soldat zu sprechen. Diese Erinnerungen unterschieden sich wesentlich von den Soldatengeschichten, die bei Trinkgelagen unter Männern so häufig aufgetischt wurden. Er hatte nach seiner viermonatigen Kurzversion des Militärdienstes in der Türkei auch in seiner neuen Heimat Militärdienst ableisten müssen. Das war eine der Grundvoraussetzungen, um als Einwanderer aufgenommen zu werden. Als er Staatsbürger jenes Landes geworden war, hatte er wie alle bis zum fünfundvierzigsten Lebensjahr unbedingt zwei Wochen im Jahr Dienst tun müssen. Was er erzählte, war dennoch interessant, es war zumindest für mich beeindruckend.
    »Es waren lustige Tage … Ich war im Norden bei den Seestreitkräften. Auf einem ihrer Beobachtungsposten … Insbesondere in den Sommermonaten war der Dienst, weil an der Küste, wie Urlaub. Da waren prima Kameraden. Wir waren immer dieselbe Truppe, was haben wir nicht alles angestellt … Alkohol, Ausflüge auf dem Meer, die Soldatinnen … Alles natürlich heimlich. Aber alle wußten Bescheid. Es waren ziemlich hitzige und bewegte Tage … Aber das war nicht alles. Außerdem gab es auch sehr heiße Nächte. Von Bomben, Minen im Meer und Sprengstoff in Segelbooten bis zu Terroristen, die sich vom Ufer aus heranschlichen, kam alles vor. Tod und Leben durchdrangen sich, beides war ineinander verschlungen. Nun, das alles mag nicht so schlimm gewesen sein, aber denk mal, was ich gefühlt habe. Meine Aufgabe war es, das Meer zu beobachten … Und dabei nicht zu krepieren …«
    Ja, Tod und Leben waren ineinander verschlungen … Von hier aus hätten wir im Gespräch bis wer weiß wohin gehen können. Doch ich spürte plötzlich, daß er, indem er seine Erlebnisse etwas zu amüsant geschildert hatte, über dieses Thema nicht länger sprechen wollte. Einige der von ihm verwendeten Wörter hatten sich sogar verwandelt, vielleicht weil er jene Tage so in sein Leben eingebaut hatte. Beispielsweise wußte ich, er hätte früher niemals das Wort ›Terrorist‹ verwendet. Nachdem er gesagt hatte, nun denk mal, was ich gefühlt habe, hätte er das vertiefen können, wenn er gewollt hätte. Doch obwohl ich das alles sah, wollte ich der Sache nicht weiter nachgehen. Denn ich wußte, die Menschen können auch mit Widersprüchen leben. Ebenso wußte ich, was Niso im Grunde für ein Mensch war, wohin auch immer mich seine Erzählungen geführt hätten. So weit, so gut, die Nacht war ziemlich weit vorgerückt. Ich mußte schauen, daß ich den letzten Dampfer erwischte. Wir standen auf und

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