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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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seiner Stimme entging mir nicht. Es war, als hielte er etwas vor mir geheim. Etwas, das er nicht hatte sagen können … Bezog sich dieses Gefühl auf ihn selbst oder auf eine Wahrheit, die wir sehen mußten? … Seine Worte erschienen mir jedoch sehr sinnvoll. Unsere Leben lechzten geradezu danach, die gewohnte Denkweise zu verändern … Dennoch konnte ich nicht antworten. Ich drückte nur seine Hand, um mich ihm noch einmal mit ganzem Wesen spürbar zu machen … Schließlich war auch das eine Antwort … Da schaute er mich noch einmal an. Ich kannte diesen Blick nur zu gut. Ich fühlte, es gab noch etwas, das er erzählen wollte. Ich wartete. Mit Blicken versuchte ich ihm zu zeigen, daß ich bereit sei, ihm zuzuhören. Ich war ruhig, ganz ruhig. Denn ich wußte ja noch nicht, was er sagen würde. Danach würde ich mich in einer völlig unerwarteten, anderen Erzählung finden, die den Sinn unserer Erzählung vollständig verändern würde. In einer Erzählung, die das, was wir erlebt hatten, noch mehr vertiefen würde … Schon die Einleitung dazu genügte, mich in diese Tiefe zu ziehen.
    »Eigentlich … Eigentlich habe ich dir eine wichtige Tatsache verheimlicht … In bezug auf Şebnem … Besser gesagt in bezug auf uns drei … Vielleicht … Vielleicht hätte ich das, was ich jetzt sagen werde, gleich zu Anfang sagen sollen. Am ersten Abend, als du mich nach Şebnem gefragt hast … Doch ich konnte nicht, ich habe es nicht fertiggebracht …«
    Ich versuchte meinen Atem zu kontrollieren. Seine Stimme zitterte noch stärker. Ich konnte bloß schweigen. Wir beide sahen ein, daß wir einer Konfrontation nun zweifellos nicht mehr ausweichen konnten. Er fuhr fort.
    »Erinnerst du dich, was ich dir im Garten des Krankenhauses bei unserem ersten Besuch gesagt habe?«
    Natürlich erinnerte ich mich. Wie hätte ich es vergessen können … Ich hatte meinen Weg zu Şebnem außer auf meiner inneren Niederlage auf ihrem Verlust aufgebaut. Wiederum durch Blicke versuchte ich zu signalisieren, daß ich mich an die Erzählung bis in die kleinsten Details erinnerte. Ich überließ mich dem, was mir jenes Zittern zeigen wollte.
    »Jene Erzählung … Jene Erzählung war eine Lüge, Isi … Es stimmt, was ich von Şebnems Eltern, den Schmerzen, die sie in ihrer Kindheit erlebt hatte, und von ihrem Interesse fürs Malen erzählt habe, aber jener Brand … Jener Brand war eine grandiose Lüge … Şebnem ist nicht nach Paris gegangen, sie hat keinen französischen Schauspieler geheiratet, kein Kind geboren. Jenes Haus hat nicht gebrannt … Denn … Denn sie ist mit mir nach Ankara gekommen. Wir hatten uns am Ende des Sommers dazu entschlossen. Anfangs plante sie tatsächlich, nach Paris zu gehen. Sie hat dich nicht belogen. Doch dann … Dann sind wir in jenem Sommer einander sehr nahe gekommen … Sehr nahe, verstehst du? … Ich habe sie davon abgebracht fortzugehen und überzeugt, am Konservatorium zu studieren. Wir waren wahnsinnig ineinander verknallt. Wir sind voller Begeisterung nach Ankara gegangen, um uns dort in ein neues Leben zu stürzen. Dir mußten wir diese Tatsache verheimlichen. Denn wir wußten, wie sehr du sie liebtest. Es hat uns schon bedrückt. Doch wir wollten unsere leidenschaftliche Liebe ausleben. Ich habe das Ganze sogar vor meiner Mutter verheimlicht. So weit ging meine Heimlichtuerei, versteh doch. Wir haben uns mit der Überzeugung getröstet, daß du uns eines Tages verstehen würdest.«
    Ich schwieg. Ich konnte mich weder des Gefühls erwehren, betrogen und ausgeschlossen worden zu sein, noch der Frage ausweichen, wie Şebnem dann verrückt geworden war … Ich war innerlich ganz durcheinander … Er fuhr mit seiner Erzählung fort, als spürte er, was ich fühlte.
    »Vielleicht bist du jetzt wütend, sehr wütend, sowohl auf mich als auch auf sie … Aber warte, warte bitte ab, und hör bis zu Ende an, was ich erzählen will … Denn dem gegenüber, was du noch hören wirst, ist das Bisherige ein Nichts … Wie ich dir schon früher sagte, erwartete mich in Ankara jener Kampf. Şebnem trat ins Konservatorium ein. Wir wohnten in verschiedenen Wohnheimen. Erst im Laufe der Zeit bekam unser Leben eine neue Form. Wir nahmen gemeinsam an Demonstrationsmärschen und politischen Schulungen teil, doch ich versuchte, sie soweit wie möglich aus den Arbeiten für unsere Organisation herauszuhalten. Sie wollte sich sowieso nicht besonders stark einbringen. Dieses Gleichgewicht war gut, insbesondere für

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