Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
durchdrang ein Schmerz, der die Last, die Bitterkeit und das Bedauern all der Jahre trug … Als bemerkte sie, was ich fühlte, versuchte sie, mir wieder aufzuhelfen mit ihrer Stimme, die ebenfalls an die alten Zeiten erinnerte, aber zugleich das Liebevolle mit einer scherzhaften ›Schwesterlichkeit‹ einfärbte, ja vertiefte.
»Aber was wart ihr doch häßlich! …«
Als ich diese Worte hörte, fühlte ich einen leichten, inneren Schmerz, über den ich inzwischen lächeln konnte. Genauso wie die in aller Offenheit gemeinsam erlebten Schmerzen, an die jener Spiegel immer erinnert hatte, irgendwo zurückgeblieben waren … Mit der Kraft, die ich aus diesem Gefühl gewann, erwiderte ich ihre Herzlichkeit:
»Ich bin sehr gut aussehend geworden, Fatoş Abla … Du glaubst nicht, was das Älterwerden geholfen hat! …«
Ich hatte erwartet, daß sie lachen würde, aber wieder schwieg sie eine kurze Zeit. Vielleicht lächelte sie, das konnte ich nicht sehen. Ihre Stimme drückte sowohl Zuneigung zu mir als auch jenes ›schwesterlich‹ liebevoll Gestrenge aus.
»Necmi ist noch häßlicher geworden! …«
Es schien, als enthielte ihre Stimme etwas unbestimmt Brüchiges. Als käme dieses Brüchige aus der Tiefe, aus sehr tiefer Tiefe … Mir entging dieser kleine Wechsel, von dem ich nicht wissen konnte, wie wichtig er war, nicht. Ich deutete ihre Worte dennoch in dem Sinn, daß sie mir sagen wollte, ihr Sohn sei gealtert. In dem Moment konnte das Gesagte mich nur bis dahin führen. Vielleicht war er zu einem Mann mit Bauch geworden, mit ergrauten Haaren und noch stärkerer Brille … Ich versank erneut in Gedanken und hörte zu sprechen auf, ohne es zu merken. Ihre nächsten Worte genügten, mich in die Gegenwart zurückzuholen, und riefen zugleich andere Bilder in mir wach.
»Na ja, ihr werdet euch ja sowieso treffen … Sag ihm, er soll nicht zuviel trinken. Manchmal trinkt er viel …«
Derartige Ermahnungen hatte sie auch früher schon ausgesprochen. Damals als junger Mann hatte sich Necmi jederzeit plötzlich in eine schwierige Lage bringen können, und meistens war nicht vorauszusehen, was er tun würde. Ich war sein verläßlichster Freund gewesen, und zumindest äußerlich hatte ich reifer gewirkt als er. Deswegen hatte mich Fatoş Abla viele Male beauftragt, ihn wie ein großer Bruder zu beschützen. Es berührte mich sehr, nach Jahren wieder in der gleichen Weise in Dienst genommen zu werden, und doch, ich weiß nicht, warum, tat es mir ein bißchen weh. Hätte ich gewußt, was sie mir eigentlich über Necmi sagen wollte, wäre ich zweifellos noch betroffener gewesen. Noch war es aber zu früh, die anderen, erschütternderen Tatsachen zu erfahren. Oder es war viel zu spät … Was hätte ich nach dem, was ich wahrgenommen hatte, noch sagen können? … Schmerzlich berührt beendete ich das Gespräch.
Um mit einem Menschen, mit dem ich vor Jahren viele Geheimnisse geteilt hatte, erneut Verbindung aufzunehmen, hatte ich nur ein kleines Stück Papier … Ich schaute auf die hastig hingekritzelte Handynummer und hatte dabei ein seltsames Gefühl … Es war einerseits aufregend, andererseits erstickt in einer bitteren Freude … Die Bitterkeit rührte ein wenig daher, daß so viele Jahre vergangen waren. Aber mir schien auch, als sei ich irgendwie gekränkt, weil ich ihn derart schnell gefunden hatte … Als hätte ich mich viel mehr anstrengen müssen, ihn nach der langen Zwischenzeit zu finden … Viel mehr anstrengen … Um unsere Trennung möglichst bedeutungsvoll zu machen … Damit unsere Geschichte, unsere Suche um so glaubhafter wurde … Aber da war nichts zu machen, die Reise sollte halt auf diese Weise beginnen … Vielleicht war das auch ein Zeichen. Ein Zeichen, das mir sagen konnte, daß sich mein Traum verwirklichen würde … Ich versuchte, dieses Spiel des Schicksals zu mögen.
Danach kam ein langes Sich-Erinnern. Ich war nun mit meinen Erinnerungen und meiner Einsamkeit allein … Da ich sehr oft in jenes Haus gegangen war, hatte ich viel mitbekommen von Dingen, die viele Menschen nicht wußten und nicht erfahren sollten.
Der Vater von Necmi, ein Staatsanwalt, war eines Tages aus nie wirklich geklärten Gründen in Adana ermordet worden. Es kursierten verschiedene Gerüchte. Manche meinten, der Mord sei wegen einer Korruptionsklage begangen worden, andere, es sei eine Staatsangelegenheit, noch andere sagten gar, es sei eine Liebesaffäre schuld, doch der Vorfall blieb im wahrsten Sinne
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