Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
Vom Netzwerk:
des Wortes schleierhaft oder wurde verschleiert. Necmi war damals erst zwölf Jahre alt. Wie er mir Jahre später in einem unserer Gespräche bei gerösteten und gesalzenen Kichererbsen und Wodka mit Zitrone erzählte, war es ihm unendlich schwergefallen, vaterlos aufzuwachsen. An jenem Abend versuchte ich mit ihm auch den Schmerz der Entfremdung zwischen mir und meinem Vater zu teilen. Wir entwarfen langsam den Weg, der sich vor uns ins Leben öffnete. In vielen der folgenden tiefen, eindringlichen Gespräche versuchten wir die ›Besonderheiten‹ zu finden und zu erkennen, das, was uns selbst ausmachte. Je näher wir einander in diesen Gesprächen kamen, um so mehr entfernten wir uns unweigerlich von den anderen. Die Unausweichlichkeit der Entfernung, ihre Vorteile wie auch ihren Preis erlebten wir mit jedem Tag mehr. So sehr, daß nach einiger Zeit auch die anderen Helden unserer Erzählung, die Mitglieder unserer ›Schauspieltruppe‹, gezwungen waren, die Tatsache anzuerkennen. In jenem Zimmer konnte viel Offenheit erlebt, gezeigt und miteinander geteilt werden … Die meisten dieser tiefen Gespräche führten wir in seiner ziemlich großen Wohnung in Teşvikiye. Seine Mutter wurde nicht böse, wenn wir Alkohol tranken, im Gegenteil, sie unterstützte uns sogar, denn so würden wir erwachsen, pflegte sie zu sagen. Deshalb war es für mich ein ganz besonderes Haus, ein Haus der Freiheit. Weil ich hier, anders als bei mir zu Hause, keine Tradition vorfand, war es ein Haus der Freiheit, in dem ich mich ganz anders fühlte … Wenn wir in manchen Nächten sehr viel getrunken hatten, schlief ich auch dort. In den meisten dieser Nächte blieben wir allein. Fatoş Abla überließ uns dann uns selbst, zog sich äußerst attraktive Kleider an, schminkte sich stark und ging zu Vergnügungen, über die sie uns nichts erzählte, die wir aber für sehr besonders hielten, und wenn sie gegen Morgen nach Hause kam, war sie oft betrunken, und manchmal kam sie gar nicht heim. Erst viele Jahre später konnte ich erfassen, daß hinter der lachenden, lebenslustigen Frau, die sie in solchen Zeiten absichtlich hervorkehrte, eine ganz einsame, gebrochene Frau gelebt haben mochte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, was ich damals erfuhr, aber nicht für wichtig nahm … Fatoş Abla hatte von ihren Eltern, die ihre Heirat nie akzeptiert hatten, einen größeren Nachlaß geerbt. Nach dem Mord an ihrem Ehemann gab sie das Geld mit vollen Händen aus, als wollte sie Rache nehmen an etwas, das sie schwerlich hätte benennen können. Aber eigentlich war auch die Weise, wie sie sich selbst in diesem Leben einer lustigen Witwe verschwendete, sehr bitter und eine andere Art von Aufstand gegen das Schicksal …
    Wir waren damals Gymnasiasten, die sich wie alle in diesem Alter auf ihre Art gegen ihr Leben auflehnten, die gar nicht anders konnten, als das Leben entsprechend dieser Auflehnung zu interpretieren, und überhaupt erst versuchten, es kennenzulernen, und darum waren wir noch nicht reif, zu spüren oder zu erforschen, was sich hinter manchen Bildern verbarg … Deshalb gingen Necmi diese Szenen, die er immer mit mir teilen wollte, weil er vielleicht einen wirklichen Zeugen brauchte, zweifellos sehr nahe. Womöglich nannte er deswegen seine Mutter, sobald wir allein waren, nachdem sie in dieser Aufmachung das Haus verlassen hatte, »eine echte Hure«, die jetzt wieder hingehe, »um einen abzuschleppen«, und aus Wut darüber trank er noch mehr. Inwieweit stimmte das, was er sagte? … Ich habe mich nie getraut, die Wahrheit zu erforschen. Weder wollte ich ihn unglücklicher machen noch mir diese Frau, der ich mich so nahe fühlte, in so einem Leben vorstellen. Die »Hurenhaftigkeit« seiner Mutter war ihm sowieso zu einer, wie es schien, unausrottbaren, fixen Idee geworden.
    Manchmal gingen wir auch eine Zeitlang in die vorgerückte Nacht hinaus, um durch die Straßen zu wandern. Um unsere Betrunkenheit auch draußen zu erleben oder um durch einen langen Spaziergang den Alkoholgehalt in unserem Blut ein bißchen zu senken, damit wir noch mehr trinken konnten … Ein wenig hofften wir auch, unsere Gedanken zu zerstreuen … In diesen Stunden hatten sich über die Gassen von Teşvikiye und Nişantaşı im allgemeinen tiefe Stille und Einsamkeit gesenkt. Im winterlichen Frost hatte die Dunkelheit, die das Bild bedeckte, in das wir eintauchten, besondere Anziehungskraft, Poesie und Schauder. Der schmutzige Heizungsrauch, der aus den

Weitere Kostenlose Bücher