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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Zwiebeln, viel Öl und Essig, dazu schwach gebratene köfte . Zuerst eine Portion und dann noch mal ein Nachschlag … Nach diesem kleinen Festmahl ging ich in den Laden. Es gab ein paar Dinge zu erledigen. Wir hatten eine neue Warenlieferung bekommen. Ich ging wegen der Rechnungen auf die Bank.
    Als ich aus der Bank kam, trank ich auf dem Weg bei Hacıbekir eine Limonade aus indischen Datteln, Tamarinden. Meine Reise in die Vergangenheit hatte viele Einzelheiten und Erlebnisse zurückgebracht, die in der Dunkelheit der Zeit verloren gewesen schienen. Unbewußt hatte ich die Assoziationen, die der Geschmack dieses Getränks in mir erweckte, irgendwo bewahrt. Seltsam … Der Tag, an dem mich mein Vater zum ersten Mal mit diesem alten Geschmack bekannt gemacht hatte, kam mir wie gestern vor. Dabei waren inzwischen nahezu fünfzig Jahre vergangen. Das Erleben von Augenblicken, in denen sich ein gewisser Geschmack mit Stimmen und Gerüchen vermischt, versetzt den Menschen urplötzlich in eine ganz andere Zeit. Zudem widerstand dieser Teil von Istanbul, den ich seit vielen Jahren fast täglich sah, mit manchen Läden, kleinen Lokalen und den altersschwachen Geschäftshäusern auf seine eigene Weise dem Wandel. Zwar waren die achtsitzigen dolmuş vom 56er-Modell Chevrolet, die nach Nişantaşı und Şişli gefahren und in Stoßzeiten wie vom Erdboden verschluckt gewesen waren, schon Geschichte, doch jene Gassen waren immer noch schmutzig und düster. Zwar herrschten an vielen Stellen Häßlichkeit, Gewöhnlichkeit und Geschmacklosigkeit. Doch nahm ich diese Dinge nicht mehr so wichtig wie früher. Denn ich sah, wie sich die Geschmacklosigkeit auch auf andere Viertel der Stadt ausbreitete. Es war das beste, manche Ecken, die ich liebte, zu genießen, ihren Wert zu schätzen. Schließlich tat ich, was ich konnte. Sonst hätte ich diese Stadt nicht weiterlieben können trotz all ihrer Einbußen und ihrer mich befremdenden Farben … Ich war wieder einmal in Gedanken versunken. Doch ich wollte nicht länger dortbleiben. Ich fühlte das Bedürfnis, nach Hause zu gehen und mich in eine stille Ecke zurückzuziehen. Auch unter dem Einfluß dessen, was ich seit dem Morgen erlebt und gefühlt hatte, war ich an einen Punkt gelangt, an dem ich mir im Gewühl der Stadt ziemlich fern, fremd und verloren vorkam. Ich rief von meinem Handy aus im Laden an und sagte Fehmi, daß ich nicht mehr zurückkäme. Ich hatte getan, was für jenen Tag zu tun gewesen war. Alles andere würde ich am nächsten Tag erledigen.
    Ich ging zum Parkplatz. Gerade wollte ich ins Auto steigen, als mein Handy klingelte. Auf dem Display sah ich Necmis Namen. Seit fast zwei Tagen hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Ehrlich gesagt hatte auch ich nicht daran gedacht, ihn anzurufen. So sehr hatte ich mich vom Lauf der Geschichte mitreißen lassen … Gespannt nahm ich das Gespräch an. Auch in seiner Stimme schien ein wenig Aufregung mitzuschwingen. Das konnte man seinen Worten entnehmen, mit denen er ohne die übliche förmliche Erkundigung nach dem Ergehen sofort herausplatzte. Zu seiner unvermittelten Frage paßte außerdem dieser ironische Tonfall, den ich manchmal liebte und der mir manchmal auf die Nerven ging.
    »Wo steckst du, Alter, bist du gestorben? …«
    Ob ich gestorben war? … ›Noch nicht, Hundsfott, was bist du nur so ungeduldig!‹ lag mir auf der Zunge. Der Zeitpunkt war wirklich ausgezeichnet gewählt! … Doch am besten bewahrte ich die Ruhe. Zumindest in diesem Augenblick … Ihm eine Antwort zu geben, die zu seinem Ton paßte, fiel mir nicht schwer.
    »Nö, ich fühle mich zum Glück sauwohl!«
    In seiner Stimme schien die Spöttelei noch deutlicher.
    »Rate mal, wo ich bin! …«
    Ich hätte es nicht ausgehalten, wenn ich es ihm nicht in gleicher Münze heimgezahlt hätte. Ich ging auf seine Laune ein.
    »In Athen … Du trinkst mit Yorgos zusammen Uzo, ihr eßt gebratenen Tintenfisch, gefüllte Zucchiniblüten und Rogensalat!«
    Er lachte leise auf.
    »Das wäre möglich … Keine schlechte Idee, wirklich! … Aber ich bin viel näher. Mann, schau doch mal ein bißchen weiter!«
    Jeder, der mich kannte, wußte, ich war zerstreut. Das wußte er natürlich auch, er konnte es nicht vergessen haben. Ich hatte diese Eigenart in all den Jahren nicht ablegen können. Wenn ich in solch tiefen Gedanken versank, nahm ich meine Umgebung kaum wahr. Wo war ›weiter‹? … Ich schaute aufs Geratewohl. Nach kurzer Zeit sah ich ihn auf der

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