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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mira Magén
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schickte eine SMS. »Gibt es etwas Neues?«
    »Nein, und bei deinem Vater?«, antwortete ich sofort. Die Gedanken an Amos verdrängen, das leichte Zittern des Flügels nicht wahrnehmen.
    »Er erholt sich wunderbar«, schrieb er.
    Schön. Das Erbarmen war noch nicht aus der Welt verschwunden.
    Zwölf Uhr fünfundvierzig. Der Flüssigkeitspegel in seinem Körper war gesunken, ich musste mich beeilen, bevor es zu spät war  … Wer hatte gesagt, nicht jedes Problem in diesem Land habe etwas mit Wassermangel zu tun, im Gegenteil, vielleicht gab es zu viel Wasser, zu viele Tabletten, zu viele Gedanken. Jonathan würde sagen, dass ich wider meines Mannes Blut stehe. Ich stehe nicht, Jonathan, ich sitze, und meine Beine gehorchen mir nicht, ich schaffe es nicht, mit dem Fuß den Gashebel zu drücken. Komm, Jonathan, beweise mir, dass Gideons Verschwinden aus meinem Leben nicht das Ergebnis kühler Abwägung und freier Entscheidung ist. Solange noch Leben in einem Menschen ist, kann er herumwandern und sich bewegen, er kann den Ort und seine Meinung wechseln, keiner weiß das besser als du, Jonathan, du bist doch überzeugt, dass der Mensch sogar dann, wenn er den Geist aufgegeben hat, noch weiterwandert. Zum Beispiel ist Jizchak, unser Vater, auf die Brokatdecke gestickt, die wir der Synagoge gestiftet haben, und er bewegt sich dort, wenn das Fenster offen steht und Wind hereinweht, und wenn ein Junge am Saumzieht, bewegt er sich auf und ab, und wenn man den Toraschrein öffnet, versteckt er sich in den Falten. Ich zwang mich, den Fuß auf das Gaspedal zu drücken, und fuhr zur Polizei, mit einer Langsamkeit, die weitere erhobene Mittelfinger herausforderte. Ich parkte den Mazda auf dem Parkplatz des Russischen Platzes, in Rufweite von den Gefangenenzellen. Ich stieg mit wackligen Beinen aus. Ich, die geliebte Frau meines geliebten Mannes, schleppte mich dahin, um auszusagen, zu flehen, zu hoffen, mich zu schämen, ihn der Polizei auszuliefern. Man müsste den Namen des Platzes in Platz der Zerstörten ändern. Die Menschen hier sind entweder selbst zerstört, oder sie haben das Leben anderer zerstört. Ich blieb stehen und kontrollierte, ob mein Personalausweis den Hinweis enthielt, der bezeugte, dass ich mit Gideon verheiratet war. Die Sonne beleuchtete das Dokument, das mir das Innenministerium vor Jahren gegeben hatte, den Zopf, der nass war vom Regen, der an dem Tag gefallen war, als ich die Aufnahme gemacht hatte. Es gibt nichts auf der Welt, was seit damals nicht getrocknet ist, nur dieser Zopf ist nass geblieben. Ich steckte den Ausweis, der mein glückliches Lächeln konservierte, wieder in die Tasche, in das innere Fach, aber nicht zu tief, damit er griffbereit blieb, dann überlegte ich es mir anders und steckte ihn in die äußere Tasche, und als ich den Blick von der Tasche hob, sah ich einen Mann, der aus dem Schatten der Zypressen vor der Russischen Kathedrale trat und auf mich zukam. Mager, mit rasiertem Kopf, die Augen gegen die Sonne mit einer Zeitung abschirmend, noch einer von den Grünen oder von Greenpeace, der versuchen wird, mich zu einer Unterschrift für eine Spende zu überreden. »Hi«, sagte er, und in meinem Magen schwamm ein Eisbrocken.
    »Was tust du hier?« Die Stimme blieb mir im Hals stecken, ich brachte nicht heraus, was ist mit dir, bist du komplett verrückt geworden?
    Er kam auf mich zu, auf dem sonnigen Russischen Platz, mager, geschoren und ernst wie bei einer Beerdigung. Schweißtropfen verdunkelten die Stellen unter den Achseln des alten T-Shirts, das er trug.
    »Du hast dich um eine Stunde verspätet, ich bin seit zwölf Uhr hier«, sagte er und stand schon vor mir.
    »Soll ich eine schriftliche Entschuldigung von meinen Eltern bringen«, brachte ich heraus. Zum ersten Mal sah ich den Schädel meines Mannes und die Knochen, die sein Gehirn umschlossen. Wie soll man anfangen? Mit wo warst du und was hast du getan? Warum hast du dir die Haare abrasiert? Was geht in dir vor? Bist du noch zurechnungsfähig? Willst du überhaupt leben? Sterben? Erinnerst du dich, dass du einen Sohn hast? Hast du von der Erfindung des Telefons gehört?
    Zorn und Mitleid stritten in mir, was als erstes an der Reihe war, ich stieß sie zurück, sie sollten warten, und sagte: »Komm, gehen wir was trinken.« Absurd. Etwas hineinfüllen, damit man seine Bitterkeit herauswürgen kann. Unsere Schatten liefen niedergeschlagen vor uns her, nichts an ihnen erinnerte mehr an das Paar, dessen Schatten einmal zu

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