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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mira Magén
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dein Problem.«
    Er hob die gefalteten Hände in den Nacken, lehnte sich zurück und hörte mir mit der Höflichkeit vergangener gemeinsamer Tage zu. Ich sagte, du bist krank, auch wenn dir die Symptome einstweilen nicht wehtun, ein Leben ohne Gefühle ist kein Leben, sagte ich, du brauchst Hilfe, sagte ich, das Gefühl ist der Antrieb der Existenz, es waren große, klischeehafte und hohle Worte, die ich aussprach, ich suchte einen Ausweg, ich schoss nach allen Seiten, ich demonstrierte wenig Vernunft und viel Gefühl, aber es war sinnlos, meine Worte trafen ins Leere. Bevor ich mich ergab, zog ich die ultimative Waffe.
    »Du hast einen Sohn, Gideon.«
    »Ich leugne weder die biologische Tatsache noch die moralische Verpflichtung.«
    »Das ist alles? Darüber hinaus hast du nichts mit ihm zu tun?« Ich war außer mir, Leute drehten sich zu uns um, bevor sie sich wieder ihren eigenen Angelegenheiten zuwandten.
    »Einen Moment, habe ich dir nicht gesagt, dass mir das Gefühl abhandengekommen ist? Im Ernst, habe ich es dir gesagt oder nicht? Ich weiß es nicht mehr.«
    »Du hast es gesagt. Gideon, du bist kränker, als ich dachte. Der Junge braucht dich, er liebt dich, er sehnt sich nach dir, also komm seinetwegen, wir suchen dir den besten Arzt …«Seine Hände sanken vom Nacken auf den Tisch, entspannt und offen, ausgeruht, die Ader, über die ich immer gern gestreichelt hatte, trat auf seinem Handrücken hervor, auch seine Fingernägel, denen ich so gern Namen gegeben und die ich geküsst hatte, einen nach dem anderen, waren da, alles war da. Seine zärtlichen, verlangenden Berührungen von früher waren da, alles war da, aber mir gegenüber saß eine Statue aus dem Kabinett von Madame Tussaud. Ich winkte der Kellnerin und bat um die Rechnung. Hätte er jetzt die Hand nach mir ausgestreckt, hätte ich jeden Finger einzeln geküsst, ich hätte sie unter mein Kinn gezogen und auf meinen Nacken gelegt und auf mein Dekolleté, den Verschluss meiner Bluse, was sollte ich tun, ich hatte keinen Unfall erlebt, mein Gefühl war lebendig und zitternd. Jetzt bloß nicht weinen, die Augenmuskeln beherrschen, streng zu den Tränen sein.
    Ich bezahlte, und wir standen auf, um zu gehen. Wir sprachen nicht über Geld, über Einkommen, über die Wohnung, über Besuche, und was mit diesem ganzen Zukunftsgebäude sein würde, das wir errichtet hatten. Ich fragte, wie ich ihn im Notfall erreichen könnte.
    »Mit dem Handy.«
    »Wo schläfst du?«
    »Da und dort, nichts Festes.«
    Wir gingen auf die Straße. Er begleitete mich zum Auto, wir betraten den Russischen Platz, die Dächer der Dreifaltigkeitskathedrale glänzten.
    »Die Dreifaltigkeitskathedrale, wir könnten hier heiraten, wenn wir schon in der Nähe sind«, sagte ich.
    »Soweit ich weiß, sind wir schon verheiratet, oder?« Er betrachtete die Kupferdächer und kniff die Augen gegen die Sonne zusammen.
    Ich verzichtete auf bittere Spitzfindigkeiten, der Gedanke, dass diese Schritte über den Russischen Platz vielleicht die letzten waren, die wir gemeinsam gehen würden, drängte mich, nur das Allernötigste zu sagen oder zu schweigen.
    »Hör zu, Gideon, mir ist nichts abhandengekommen, ich kann nicht auf dich verzichten, ich kann dir nicht zustimmen, ich kann so nicht weitermachen. Ich flehe dich an, um des Jungen willen, um meinetwillen, ja, um meinetwillen, lass uns zu einem Arzt gehen. Vielleicht hast du eine Geschwulst im Kopf, die dir das Gefühlszentrum blockiert und sich bald ausbreitet und die Erinnerung und den Verstand ergreift und dich umbringt, vielleicht sind bei dir Drüsen kaputtgegangen, vielleicht fehlt dir ein Hormon, ein Enzym, ein Vitamin, vielleicht ist etwas in deiner Seele zerbrochen, vielleicht bist du nicht verantwortlich für das, was du tust, du siehst schrecklich aus, du bist krank, ich schwöre dir, Gideon, du brauchst einen Arzt, ich kann nicht zuschauen, wie du so zugrunde gehst, ich … Herr Wachtmeister, können Sie einen Moment herkommen?«
    Ich schrie nach dem Polizisten, der den Platz überquerte, er wandte sich zu uns, seine Hände bewegten sich nach rechts und links, und er fragte, ob wir ein Problem hätten.
    »Beruhige dich, Amiki, mach keine Dummheit.« Gideon stand ganz ruhig da, die Hände in den Hosentaschen, er hatte keine Angst vor mir, auch nicht vor dem näher kommenden Polizisten, auf den ich mich stürzte, als er noch ein paar Meter von uns entfernt war.
    »Dieser Mann ist krank, er ist eine Gefahr für sich selbst, das

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