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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mira Magén
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dem Gemüseladen, den der Junge auf dem Teppich eröffnet hatte. Wenn er hörte, dass ich mich dem Teppich näherte, dem Fenster, dem Spülbecken, war er angespannt, als müsse er sofort etwas erklären. Wenn er zum Gericht zurückkehren würde, müsste er seine weißen übergroßen Hemden gegen normal große tauschen. Ich wünschte, er würde zurückkehren. Oder eigentlich nicht. Wie würde er auf jenem tosenden Meer segeln, mit schlaffen Segeln und ohne Wind.
    Nadav saß in der halb gefüllten Badewanne und ließ eine Flotte von Spielzeugenten fahren, und wir saßen nebeneinander auf dem Wohnzimmersofa. Ich legte eine Hand auf sein Bein und wollte mich ihm nähern, er streichelte meinen Arm. Seine Hand glitt nach oben und nach unten, so mechanisch, wie man gedankenlos mit den Fingern trommelt oder mit dem Fuß wippt.
    »Was ist los?« Diese Worte kamen abgewogen aus meinem Mund, abgewogen wie auf einer Goldwaage.
    »Was meinst du?«
    »Du hast abgenommen, du hast keinen Appetit, deine Schultern hängen, du bist nicht zu deinen Eltern gefahren, du warst nicht in der Wohnung, wir reden nicht miteinander … Soll ich weitermachen?«
    »Um vier und fünf Frevel des Gideons willen will ich seiner nicht schonen«, sagte er, ohne zu lächeln. Er verschränkte die Arme, löste sie wieder und zog an den Fingern. Die Entenboote stießen in der Badewanne zusammen, Nadav kreischte vergnügt und wir saßen auf dem abgewetzten Sofa und betrachteten den Tisch, denn hätten wir einander ins Gesicht schauen wollen, hätten wir die Köpfe um neunzig Grad drehen müssen. Weil wir uns entschieden hatten, die Köpfe nicht zu wenden, sprachen wir zur Blumenvase.
    »Keine Ahnung.« Er starrte das Muster der Blumenvase an und sagte, er brauche Zeit, der Prozess sei mit Krisen und Niederlagen verbunden, man könne nur nach oben steigen, wenn man erst ganz unten im Loch gewesen sei, und er sei schon nahe dran, habe es aber noch nicht erreicht. Er wisse, dass sich das wie der recycelte Monolog eines Mannes aus der Wochenendausgabe einer Zeitung anhöre, aber so sei es nicht.« Wäre ich ein halb verhungerter Inder, der nichts besitzt außer einem Pappkarton, würde ich morgens aufstehen, mir den Eiter von den Lidern reiben und überlegen, wie ich die nächste Scheibe Brot ergattern könnte, aber was soll ich machen, mein Problem ist leider nicht, wie ich eine Scheibe Brot bekomme …«
    Er sei enttäuscht von sich selbst, er habe versucht, seine rhetorischen Fähigkeiten zu beleben und habe es nicht geschafft, und je verzweifelter er wurde, umso schneller sprach er und bewahrte dabei Blickkontakt mit der Vase, als sei sie sein Psychiater.
    »Tacheles, Gideon, was willst du erreichen, wozu ist diese ganze Geschichte gut?« Ich unterbrach ihn, um uns beiden zu helfen.
    »Um das zu finden, wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen. Okay?«
    »Ein Kind? Eine Frau? Sind diese Gründe nicht gut genug?«
    »Sei mir nicht böse, das sind sie nicht. Auch ein Kaninchen hat Frau und Kind.«
    Das Wortgefecht ermunterte ihn, wie im Gerichtssaal war der Funke entzündet, und gerade als seine Stimmbänder sich erholten und sein Bariton zu ihm zurückkam, drang Nadavs lautes Rufen aus dem Badezimmer: »Ich bin fertig, holt mich raus.«
    Die verbale Flut des Juristen, des Zauberers mit Worten, die Realitäten schafft und Realitäten leugnet, war unterbrochen. Zusammengekrümmt wie ein Embryo ließ sich Nadav in das blaue Handtuch wickeln und auf den Armen seines Vaters zum Bett tragen, sein kindliches Lachen drang aus den Falten des Handtuchs. »Papa, ich möchte mit dir zu den Fischen gehen«, sagte er.
    »Nein, Nadav, ich muss dort allein sein.«
    »Ich werde dir beim Fischen helfen.«
    »Du kannst mir nicht helfen, Schatz.«
    »Doch, ich kann  …« Weinen verzog sein Gesicht, er schüttelte sich das Handtuch ab und half nicht beim Anziehen.
    »Du hast gesagt, dass du mich mal mitnimmst …« Es war ein schwaches Weinen, keines, das einem zum Sieg verhilft, aber sein Vater war noch schwächer.
    Am Morgen fuhren beide zu den Fischen. Eigentlich alle drei.
    Aber vor dem Morgen kam die Nacht.
    Auch in dieser Nacht schliefen wir zusammen. Nicht gierig wie Menschen, die sich nur kurz treffen und dann wieder gehen, unsere Körper wussten besser als wir, dasswir ein Fleisch waren. Die Wange hatte es nicht nötig, dass der Verstand ihr Anweisungen gab, sie wusste von selbst, in welche Höhlung sie sich legen sollte, die Zunge wusste von selbst, wo sie

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