Wodka und Brot (German Edition)
uns, leckte die Tropfen vom Fußboden, probierte auch den großen Zeh der Besucherin, ihren Unterschenkel, und überließ sich der Hand, die sein Ohr ergriff und es massierte. Sie erzählte die Geschichte nicht zu Ende, ich wusste nicht, ob es gut war zu fragen, nicht alles, was Erde und Zeit bedecken, lohnt es auszugraben. Ich wagte noch nicht einmal zu fragen, ob diesem Amos nach dem Unglück noch andere Kinder geboren worden waren, und inzwischen hatte der Himmel aufgeklart und rötliches Licht drang in die Küche, und ich fühlte mich gezwungen zu sagen: »Ende des Sommers, schau nur, was für ein schöner Sonnenuntergang.«
Aber sie schaute nicht hin. »Auch damals war es Ende des Sommers«, sagte sie.
»Elul?«
»Mag sein, ich erinnere mich nicht, jedenfalls war es schrecklich. Alle Kinder des Dorfes kamen, um zu sehen, was vorgefallen war, sie sammelten sich um die Unglücksstelle. Wenn dieser Junge am Leben geblieben wäre, wäre er heute fünfzehn Jahre alt. Für uns sind diese zehn Jahre wie nichts vergangen, für seine Eltern war jeder Tag bestimmt wie ein ganzes Jahr. Was für eine Vergeudung, wie viel Geld und wie viel Hoffnung hatten sie aufgebracht, bis er geboren wurde, und wie viel haben sie in ihn gesteckt, nachdem er auf der Welt war, und dann kamen ein paar Wörter und brachten ihn um. Fünf Wörter! ›Du hast noch ein bisschen‹, das waren die verfluchten Wörter. Amos saß in seinem Geländewagen mit Allradantrieb, mit dem er überall herumfuhr, er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr rückwärts in den Hof seines Vaters, und der alte Levi dirigierte ihn. ›Du hast noch ein bisschen‹, rief er, und Amos fuhr noch ein paar Zentimeter und hielt, und der Alte rief: ›Du hast noch ein bisschen‹ und bedeutete ihm mit der Hand, er solle Gas geben, und in diesem Moment kam der Junge auf den Hof und rannte direkt in …«
Sie bedeckte das Gesicht, und die Tusche floss von ihren Wimpern auf ihre Finger.
»Was soll ich dir sagen, schrecklich, schrecklich, das war schrecklich«, sie schüttelte den Kopf. »Das Einzige, was von ihm geblieben ist, sind seine Schuhe. Seine Beine waren zermalmt und seine Schuhe nur zerdrückt, ihnen ist nichts passiert.«
»Achtundzwanzig.« Ich sprang auf, als hätte ich die Lösung eines Kreuzworträtsels gefunden.
»Wieso achtundzwanzig?« Etwas Schminke löste sich von ihrer Schläfe und bildete einen Fleck.
»Die Schuhe.«
»Woher weißt du das? Na ja, die Größe spielt keine Rolle, was wichtig ist, sind die fünf Wörter, die eine ganze Familie zerstört haben. Fünf Wörter, verstehst du? Carmela, Levis Frau, die Großmutter des Jungen, fing an zu schreien, was heißt schreien, man sagt, ihre Schreie hätten Gottes Trommelfell zerrissen. Levi ist weiß geworden wie ein Leichentuch, und hat immer wieder gesagt, ›ich habe ihn umgebracht, ich habe ihn umgebracht‹, wie eine kaputte Schallplatte. Das ganze Dorf lief zusammen, Krankenwagen, Polizei, was für ein Durcheinander …«
»Und Amos?«
»Was für eine Polizei, Mama?« Die beiden Jungen standen in der Küche. »Los, Mama, was hast du von der Polizei gesagt?« Kim schüttelte die Hand seiner Mutter und trampelte mit seinen Schuhen Größe siebenundzwanzig auf dem Boden.
»Nichts, gar nichts.« Sie rutschte auf dem Stuhl, und im selben Moment erzitterte der Fußboden vom Müllauto, das die Straße entlangkam, die Kinder rannten hinaus, um das wunderbare Auto und den Mann, der es bediente, nicht zu verpassen.
»Du hast nach Amos gefragt? Hast du einmal einen Toten gesehen? So war er. Weißlich grau, stand völlig erstarrt da, man sagt, er war hart und kalt wie Stein, als ob ihm mit einem Schlag das Blut im Körper erstarrt wäre. Sie haben versucht, ihn zu bewegen, es ging nicht, seine Hand zu schließen, nichts. Wie eine Statue. Als Orna kam, war der Junge schon im Krankenwagen, in einen schwarzen Sack verpackt. Das ganze Dorf wich zurück und machte ihrPlatz, sie rannte wie verrückt, rannte, um den Sack aufzureißen und ihn zu sehen, sie hat getobt, und man hat sie nicht gelassen, sie hat sich auf Amos gestürzt und geschrien: ›Du hast ihn genommen, du musst ihn zurückbringen.‹ Sie hat lauter geschrien als Carmela, ihre Schreie drangen an einer Seite in den Himmel und kamen auf der anderen wieder heraus.«
»Willst du Wasser? Noch einen Kaffee?« Ich stand auf, ging zum Fenster, um nach den Kindern zu schauen und aufzupassen, dass der Fahrer nicht rückwärtsfuhr und dass keiner ihm
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