Wölfe der Nacht
den Pfad hoch, und Justin stoppt ihn mit einer Reihe unvollständiger Sätze – aber jeder seiner Gedanken verliert in der leeren Luft seinen Halt.
»Bist du fertig?«, fragt sein Vater, und als Justin nichts antwortet, geht er weiter, jetzt auf der Suche nach dem Bär, nicht mehr dem Hund. »Komm, Graham«, ruft er über die Schulter. »Es dauert nicht mehr lange. Wir töten ihn und schneiden ihm den Pimmel ab und schneiden ihm sein Herz heraus und bis zum Einbruch der Nacht sind wir wieder im Lager.« Er bleibt stehen und sagt noch einmal: »Komm, Junge.« Ohne Justin auch nur anzusehen, streckt er die Hand nach Graham aus. Seine Hand, gegerbt von Schwielen vom Hantieren mit Hämmern und Hobeln und Sägen, vom Formen der Welt.
Justin weiß, dass dieser Augenblick – ob sein Sohn auf die Herausforderung dieser Hand reagiert oder nicht reagiert – etwas bedeutet. Seine Familie ist in der Schwebe. Die Familie, aus der er stammt, und die Familie, die er geschaffen hat. Justin macht sich bereit, den Jungen zu packen, aber es ist nicht nötig: Graham weicht zurück und versteckt sich hinter Justin.
Justins Vater lässt die Hand sinken und ballt sie zur Faust. »Schaut euch beide doch nur an.« In seiner Stimme schwingt Hass mit, aber auch die härteste Form der Liebe. »Dann geht schon.«
Justin weiß nichts mehr zu sagen. Nicht Bis dann oder Viel Glück oder Pass auf dich auf. Im Augenblick fehlen ihm einfach die Worte. Er kann seinem Vater nur nachschauen, der sie jetzt hier stehen lässt und davongeht, immer kleiner und kleiner wird, bis sie ihn nicht mehr sehen können.
»Was stand da noch in diesem Buch von dir?«
Flüsternd fragt Graham: »Buch?« Er scheint nicht zu wissen, wer Justin ist, geschweige denn, wovon er redet. Sein Kinn zittert und er schaut sich über die Schulter, als werde der Pfad jeden Augenblick unter seinen Füßen herausgezogen und zusammengerollt und in einem geheimen Schrank versteckt, so dass sie hilf- und orientierungslos mitten im Wald stehen.
Justin sagt: »Lass uns ins Lager zurückkehren, okay?«
Graham nickt und sie machen sich auf den Rückweg. Sie hasten zwischen Bäumen hindurch, eine Umgebung, in der die Schatten durchbrochen sind von Säulen aus Licht, wie am Grund des Meers. Mit jedem Schritt scheinen sie schneller zu werden – der Wald zieht verschwommen vorbei –, auch wenn Justins Muskeln schmerzen und seine Beine sich anfühlen wie mit schweren Gewichten behängt. Sie ziehen die Köpfe ein, um Ästen auszuweichen, die wie dicke Arme nach ihnen schlagen. Sie schwitzen und der Schweiß läuft ihnen in schlammigen Bächen über die Wangen. Sogar die Vögel scheinen verstummt, während sie vorwärtseilen und nur flüsternd sprechen und sich hin und wieder über die Schulter schauen.
In Justins Kopf wetteifern seine vielen verschiedenen Ängste. Er hat Angst um seinen Sohn und seinen Vater. Er hat Angst um sich selber, Angst, ein schlechtes Urteilsvermögen bewiesen zu haben, indem er Graham so in Gefahr brachte. Die kurzatmige Panik, die er in sich spürt, wächst mit dem immer schräger einfallenden Licht. Er kommt sich vor, als würde mit ihm gespielt. Er hat das Gefühl, dass sehr bald, jeden Augenblick jetzt, wenn die Sicherheit bereits zum Greifen nah ist, irgendetwas im Wald sich aufrichten und sie niederschlagen wird.
Der Fluss überrascht ihn. In einem Augenblick ist er noch vom Wald umgeben, im nächsten steht er benommen am Ufer des schnell dahinrauschenden South Fork. Er hat den Fluss nicht gehört, zu laut waren in seinem Kopf die Ängste und Zweifel, alle mit schwarzen Klauen und in ein Fell gehüllt. Er streckt einen Stiefel ins Wasser und zieht ihn wieder heraus, als würde er Badewasser testen, das sich als zu heiß erweist. »Ich weiß nicht, ob ich es wieder rüber schaffe.«
»Du musst mich nicht tragen«, sagt Graham, doch Stimme und Gesicht sind von Zweifel verdüstert. »Ich schaffe es alleine.«
»Nein, das schaffst du nicht. Der Fluss ist zu stark. Wir müssen flussaufwärts gehen, bis wir eine ruhigere Stelle finden.«
»Okay.«
»Kann aber noch eine Meile sein.«
»Okay.«
Noch eine Meile, obwohl das andere Ufer nur zwanzig Meter entfernt ist. Justin seufzt schwer und setzt sich flussaufwärts in Bewegung, seine Stiefel knirschen über Kies.
»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagt Graham.
»Was denn?«
»Aus dem Buch?«
»Okay.«
»Für ihren Bau graben sie einen Tunnel unter einem Baum oder einer Felsflanke hindurch. Der
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