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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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ich dich. Und jetzt wollen wir ins Lager zurückgehen. Und dort auf Opa warten.«
    Graham setzt seine Kappe wieder auf und geht los, und Justin folgt ihm ins Lager, wo er Holz auf das schwelende Feuer legt, bis die Flammen wieder lodern. Dann legt er noch ein großes Scheit obendrauf, um die hereinbrechende Nacht mit hellem orangenem Licht zu vertreiben.
    Neben Justin wächst eine Distel. Ohne groß nachzudenken zieht er sie aus dem Boden und schüttelt die Erde von den Wurzeln und öffnet die zusammengeballte Blüte und zermanscht die lila Krone der Sporen zu einer Paste. Seine Hände brauchen eine Beschäftigung und seine Augen etwas, worauf sie sich konzentrieren können, und deshalb macht er weiter, er reißt die Blätter vom Stängel und lässt sie eins nach dem anderen zu Boden fallen und hört erst damit auf, als er einen Eisack entdeckt, der in Seide eingesponnen in der schmalen Gabel zwischen Stamm und einem Blatt hängt, damit Bienen und Vögel ihn nicht zerstören können. Ungeschickt versucht er, die Distel wieder in den Krater zu stecken, aus dem er sie gezogen hat, doch nach wenigen Sekunden fällt sie wieder um, und er lässt sie dort liegen.
    Ein Geräusch lässt Justin hochfahren. Es kommt aus der Nähe, aus dem Wald. Ein dumpfer Schlag. Fast mehr eine Vibration als ein Geräusch, als würde das stumpfe Ende einer Axt einen Baum treffen oder ein Vogel in vollem Flug gegen ein Fenster prallen. Ein Geräusch, das Justin an Barrieren und den Schmerz ihrer gewaltsamen Kollision erinnert. Eine Warnung?
    Er versucht, sich ein glückliches Ende des Tages vorzustellen. Es ist nicht einfach. Sein Vater kommt entweder zurück oder er kommt nicht. Wenn er nicht zurückkehrt, wenn er bis Mitternacht nicht wieder da ist, werden sie aufbrechen und den Kiesweg entlanggehen, bis er in eine Asphaltstraße mündet, die in die Stadt führt. Und wenn sein Vater zurückkehrt – ist das nicht noch immer möglich? Ist es? Vielleicht sogar mit Boo an seiner Seite –, dann werden sie sich gegenseitig auf den Rücken klopfen und sich auf den Weg machen nach John Day und sich vollstopfen mit Burger und Fritten, die in Ketchup ertrinken. Graham wird ihnen die Fotos zeigen, die er geschossen hat, und sie werden sich gegenseitig versichern, dass es ein Abenteuer war, von dem man noch in zehn Jahren beim Thanksgiving-Essen erzählen wird. Das ist das glückliche Ende, das er in seinen Gedanken bewahrt, als er zum Fluss geht und in dem Steinkreis herumtastet und eine Pepsi herausfischt und sie seinem Sohn bringt. »Sieht aus, als könntest du eine gebrauchen.«
    Graham nimmt die Dose und stellt sie sich zwischen die Füße.
    Aus dem nahen Wald kommen wieder Geräusche. Beim Rascheln von Bewegungen im Unterholz schaut Graham schnell zu Justin. Sein Gesicht ist schmutzig und rot. Die Panik in seinen Augen steckt Justin an, der sein Gewehr packt und verkniffen in den Wald starrt und dort einen sich bewegenden Umriss aus schwarzen Schatten entdeckt. Daraus werden zwei Opossums, die einander jagen, zischend von Ast zu Ast springen und dann den Stamm hinunter zum Waldboden rennen, wo sie stehen bleiben, um Justin mit ihren schwarzen Augen anzustarren, wie um ihn daran zu erinnern, dass er vor ihnen keine Angst haben muss.
    »Es ist nichts.« Justin lehnt sich, das Gewehr auf den Schenkeln, in seinem Stuhl zurück.

PAUL
    Mit rot geränderten Augen unter schweren Lidern schaut er über den Fluss. Nach der Beerdigung des Hunds sind seine Fingernägel abgebrochen und schmutzverklebt. Er fühlt sich leer, ausgehöhlt. Sein Herz scheint in einem Augenblick zu träge zu schlagen, im nächsten zu schnell. Unterwegs musste er sich mehrmals hinsetzen, ihm war schwindelig und er kam sich vor, als würden schwarze Fliegen am Rand seines Ge sichtsfelds schwirren. Und jetzt erscheint der Fluss, der so breit und voller Stromschnellen ist, eine unmögliche Distanz. Er hat nie, nicht wirklich, an seine eigene Sterblichkeit geglaubt, nicht einmal, als er niedergestreckt im Krankenhaus lag – doch die Möglichkeit des Sterbens in diesen letzten Stunden hat ihm nun doch seinen Seelenfrieden geraubt. Er ist wie ein Mann, der aus einem Albtraum aufwacht und schweigend ins Zimmer starrt, sich fragt, ob die Gefahr vorüber ist oder ob der Schrank aufspringt und ihn zwei glühende gelbe Augen daraus anstarren.
    Auf den Gedanken, flussaufwärts zu gehen, kommt er nicht. Er schießt auch nicht in die Luft, um seinen Sohn zu Hilfe zu holen. Es existiert nur das

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