Wölfe der Nacht
sein, dass sie erst sehr spät zurückkommen. Vielleicht schläft sie einfach ein. Oder vielleicht ruft sie dann 9-1-1 an, aber es wird sie viel Anstrengung kosten, die Beamten zu einer Aktion zu motivieren, sie zu überzeugen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Und auch falls Karen mit einem Wunder der Beharrlichkeit es schafft, einen Ranger aus dem Bett zu holen, der dann grummelnd in seinem grünen Pick-up durch die Ochocos fährt, wird der Morgen anbrechen, bevor er den Canyon erreicht, und bis dahin ist der Bautrupp sowieso schon da. Wie weit sind sie von Hilfe entfernt? Sehr weit. Eine ganze Nacht liegt vor ihnen. Und er glaubt nicht, dass er noch eine Nacht durchhält, nicht ohne seinen Vater.
Irgendwo in der Ferne schreit eine Eule – und dann eine zweite. Die Vogelstimmen werden zu einer fremdartigen, süßen Musik. Er stellt sich sein verängstigtes Gesicht vor, das trübe durch die Dämmerung scheint, und bemüht sich, es seinem Sohn zuliebe hart zu machen, stumm und entschlossen wirken zu lassen.
»Graham«, sagt Justin. »Ich habe eine Geschichte für dich. Hast du gewusst, dass die Indianer glauben, Eulen und Schreiende Ziegenmelker und ein paar andere Vögel – ich weiß nicht mehr welche –, aber hast du gewusst, dass sie glauben, Eulen sind Gefäße, die Seelen zwischen dem Land der Lebenden und dem Land der Toten hin und her tragen?«
»Und sie kommen, um uns zu holen?«, fragt Graham mit sachlicher Stimme.
»Nein«, sagt Justin. »Natürlich nicht. Ich wollte damit nur sagen …« Er kann seinem Sohn nicht in die Augen schauen, deshalb starrt er auf dessen Füße, wo die Cola-Dose das orange schimmernde Licht des Feuers reflektiert.
Graham nickt und trinkt einen Schluck und reibt sich die Augen, um wieder wach und optimistisch zu werden.
Und dann kommt die Nacht. Sterne blinken auf, und Justin betrachtet sie. Als er noch ein Junge war, hat sein Vater ihm häufig die Sternbilder gezeigt, deren Namen so fremdartig klangen, wie Codewörter, die eine geheime Tür öffnen können. Jetzt versucht er, sich an ein Bild zu erinnern, ihm gefällt der Gedanke, dass eine große schwarze Tür sich öffnen könnte, durch die sie hindurchtreten könnten – direkt in ihre Küche, in der Sonnenlicht durchs Fenster strömt und ihm die Haut wärmt. Die Kaffeemaschine würde auf der Anrichte glucksen. Speck würde auf dem Herd braten. Aus dem pseudo-antiken Radio würde NPR plärren.
Aber er sitzt noch immer hier und starrt ins Feuer. »Du bist so blöd«, hätte er beinahe gesagt. »Schau dir an, was du getan hast.« Aber er tut es nicht.
Stattdessen sagt er: »Was sollen wir tun?«
»Was wir tun sollen?«, sagt Graham. Sein Gesicht nimmt einen hässlichen Ausdruck an, zeigt Justin jemanden, den er nicht kennt. Er wirft seine Cola in hohem Bogen weg, und es knallt und sprudelt irgendwo in der Dunkelheit. »Du bist der Dad. Du solltest es wissen.« Und dann wird sein Gesicht wieder weicher. Er schließt die Augen, die Lider wirken dünn wie Papier. »Ich habe Angst«, sagt er. »Ach, wenn doch nur Grandpa hier wäre.«
Die Bemerkung verletzt Justin nicht, aber sie gibt ihm einen Ruck, und abrupt ändert sich sein Blickwinkel. Sein Vater ist nicht hier. Jetzt ist es an Justin, eine Entscheidung zu treffen. Er spürt in sich etwas wachsen, einen Raum ausfüllen, der zuvor leer war. Er sagt seinem Sohn, er brauche keine Angst zu haben. Er schaut sich um und bastelt sich im Kopf einen Plan zusammen. Er erklärt ihn Graham schrittweise, so wie er ihm einfällt. Er will auf einen Baum klettern, einen hohen Baum, um zu sehen, ob er dort oben ein Handysignal bekommt. »Und dann«, sagt er »wenn ich kein Signal bekomme, machen wir uns zu Fuß auf den Weg.« Sie werden es nicht nur versuchen. Sie werden es tun. Es bringt nichts, hier herumzusitzen, sagt er, wie lahme Enten.
Während er mit entschlossener Stimme erklärt, wie sie dies und das machen werden, hört er eine vertraute Barschheit, die er sich von seinem Vater geliehen hat wie einen Baseballhandschuh, der nicht ganz passt, in seinem Leder aber die Sicherheit der Erfahrung trägt. »Klingt das nach einem Plan?«, fragt er, und Graham nickt eifrig.
Justin weiß nicht, ob er mutig ist oder dumm. Er legt den Sicherungshebel seines Gewehrs um und verlässt den Feuerschein, und dabei fühlt er sich, wie wenn man vom Bürgersteig auf eine belebte Straße tritt und die Autos auf einen zurasen mit Kühlergrills wie silbrig glänzende Münder. Die Wolken reißen
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