Wölfe der Nacht
sicher. Ein Bär, der mehr ist als ein Bär. Er geht aufrecht und spricht mit gutturaler Stimme und giert nach Jungenfleisch. Er ist besessen vom Geist des Waldes. Im Augenblick beobachtet er ihn, ganz aus der Nähe, aber unsichtbar.
Doch als er dann die zerdrückte PBR -Dose im Gras funkeln sieht, löst seine Vision sich auf, und er wird wieder vierzig. Natürlich hat Seth das getan. In seiner Panik hat Justin ganz vergessen, dass er überhaupt existiert, aber jetzt sieht er ihn deutlich, als würde er direkt vor ihm stehen: das Grinsen auf dem Gesicht, als er das Brecheisen in die Scheiben jagt und sein Messer in die Reifen stößt, sich an den Geräuschen erfreut, dem Klirren und Zischen, das orchestriert wurde von einer Wut, die von nirgendwoher zu kommen scheint, tatsächlich aber von der Zukunftsangst eines Mannes kommt, der zu ertrinken meint, während die anderen bequem in ihren Vergnügungsbooten schwimmen. Es ist eine Angst, die Justin jetzt nicht mehr nachempfinden kann. Er will, dass Seth arbeitslos, zwangsvollstreckt und von himmelhoher Grundsteuer aus seiner Heimatstadt vertrieben wird. Er will eine neonhelle Raststätte aus Glas und Beton anstelle dieser beschissenen Hütte von Tankstelle und Köderladen, in der sie sich kennenlernten. Er will diesen Canyon ausgeweidet, niedergebrannt und in ein Einkaufszentrum verwandelt, in dem jeden Morgen Großmütter in lilafarbenen Trainingsanzügen schlendern.
Justins Herz klopft heftig. Sein heißes Gesicht fühlt sich an wie unter Strom und sein Schädel wie voller feuchtflügeliger Wespen. Jetzt merkt er, wie sehr diese letzten Tage ihn mitgenommen haben, auf zunehmende Weise, doch diese akkumulative Wirkung spürt er erst jetzt – mit absoluter Angst.
Einen entsetzlichen Augenblick lang taucht er in einen verschwommenen Gemütszustand, in dem er fürchtet, plötzlich zusammenzubrechen, niedergedrückt von Erschöpfung, Schock, Entsetzen, all diesen schlechten Sachen, und mit dem Oberkörper zu schaukeln und den Kopf zu schütteln und die Augen zusammenzukneifen und für lange Zeit nicht mehr zu sprechen – Monate, vielleicht Jahre –, und wenn, dann nur mit der Hilfe von Medikamenten. Die Aussicht erscheint ihm attraktiv, verglichen mit der Alternative, sich dem Zucken im Gesicht seines Sohnes zu stellen, der versucht, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
Tränen laufen dem Jungen über die Wangen. Er hat seine Jagdkappe abgenommen, als würde er etwas betrauern. Und Justin weiß, seinem Jungen das Leben zu retten ist wichtiger, als sein eigenes zu retten; dazu muss er sich seinen klaren Verstand bewahren. Eine schwarze Wolke hat sich über sie gesenkt, und um sie zu vertreiben, muss er etwas sagen, sie mit tröstenden Worten wegfegen. »Es wird alles gut«, sagt er, mehr schafft er im Augenblick nicht.
»Oh.« Die Stimme seines Sohns klingt unsicher, aber sein Gesicht entspannt sich und er schaut hoch zum Canyonrand, als wäre das Weggehen jetzt eine vorstellbare Möglichkeit. Mit beiden Händen wischt er sich die Tränen weg. »Aber das Auto ist hin.«
Justin kann nur widerwillig nicken.
»Und was machen wir jetzt?«
Das ist eine Frage mit vielen Verzweigungen. Werden wir überleben? ist eine davon. Wird es wehtun, wenn ich sterbe? Das sind die Fragen, die wichtig sind, und es gibt Antworten, die Justin vermeiden muss, um die Angst außen vor zu halten und Mut und Entschlossenheit zu erzeugen.
»Mach dir keine Sorgen.«
»Aber was machen wir?« Er klebt an diesen Worten, ihrem kargen Potential. »Es ist diese Gespenstergeschichte, die Opa uns erzählt hat, nicht? Passiert das alles deswegen? Weil wir nicht hier sein sollten? Weil sie den Canyon kaputt machen?«
Das ist die Reaktion eines Kindes, und Justin liebt ihn dafür. Trotz allem, was passiert ist, bleibt er ein Kind und hat noch den kindlichen Aberglauben daran, wie die Welt Glück und Pech unter den Menschen verteilt. »Nein.« Justin drückt ihn so fest an sich, dass ihm fast die Luft wegbleibt. Als sie sich wieder voneinander lösen, bemüht Justin sich sehr, er schenkt ihm ein optimistisches Lächeln und zupft an seinem Hemdkragen und zieht an seinen Ärmeln, sowohl um seine Hände zu beschäftigen wie um Graham herzurichten. »Alles okay bei dir?«
Graham nickt, schaut Justin jedoch nicht an, sondern strafft die Schultern und stellt die Füße zusammen, um aufrecht zu wirken. Um den Eindruck zu vermitteln, dass er okay ist.
»Gut«, sagt Justin. »Das ist gut. So brauche
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