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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Muschelschale geblasen. Er geht zum Fenster. Eine kühle, nach Lärche duftende Brise weht und bläht die Vorhänge um ihn herum auf. In der Ferne kann er die Cascades erkennen. Sie leuchten im Mondlicht, weißschultrig vom Schnee und bebartet von Wald, der vor ihrer Helle eher schwarz als grün wirkt. In ihren Ausläufern blinkt ein kleines Licht auf, das ihm ins Auge fällt. Einen Augenblick später ist es verschwunden, und er fragt sich, woher es kommt, so weit weg von der Stadt – ohne Straßenlaternen oder Neonschilder irgendwo in der Nähe –, ein kleiner Glassplitter, der sich in den Falten eines riesigen schwarzen Tuchs verfangen hat.
    Seine Frau ist ebenfalls wach. Das merkt er an ihrer Atmung. Sie duschte, bevor sie ins Bett ging, schrubbte ihre Haut rosig und shampoonierte ihre Haare zu einem seidigen Schwarz. In diesen letzten Stunden hat, sooft sie sich bewegte, um eine bequemere Lage zu finden, ein Lufthauch den Geruch ihrer Sauberkeit zu ihm getragen.
    Er geht wieder zu ihr ins Bett. Sie hat sich die Decke über die Brust hochgezogen und unter die Arme gesteckt. Sie seufzt auf eine Art, die bedeutet, dass sie gleich etwas sagen will. Und dann sagt sie es: »Der Mann muss mal in seine Schranken verwiesen werden.«
    Sie meint damit nicht nur heute, sondern auch andere Tage. Letzte Woche zum Beispiel, als sie zum Mittagessen in sein Elternhaus fuhren, ging sein Vater mit Graham in den Garten, und Karen fand die beiden dann später vor einer flachen Senke kauernd, wo sie einen Skorpion anfeuerten, den sie gegen eine schwarze Spinne in Stellung gebracht hatten.
    »Mein Herz raste eine Meile pro Minute«, sagte Karen und legte sich die Hand an diese Stelle, zwischen ihre Brüste.
    »Ich weiß.«
    »Ich schwöre dir, ich hätte ihn fast geschlagen. Hätte ihm fast eine Ohrfeige gegeben. Dieser Mann geht mit anderen Menschen so unachtsam um wie mit seinem eigenen Körper.«
    »Ich weiß, ich weiß.«
    » Das glaube ich nicht, Justin. Zu dem Zeitpunkt ist mir alles durch den Kopf gegangen. Alles, was du dir vorstellen kannst. Ich war mir sicher, dass er tot ist. Unser Sohn. Weißt du, wie ich mich dabei gefühlt habe? Als würde es noch einmal passieren.« Er muss sie nicht fragen, was sie mit es meint. Es definiert sie inzwischen. Sie hebt den Kopf vom Kissen und lässt ihn wieder sinken. »Ich will so etwas nie wieder fühlen. «
    »Es tut mir leid.«
    »Entschuldige dich nicht. Hör auf, dich zu entschuldigen. So redest du nämlich mit deinem Vater.«
    »Entschuldigung.«
    Sie dreht sich ihm zu, schaut ihm in die Augen und er sagt: »Das war jetzt nur Spaß.« Er küsst sie auf die Stirn und behält die Lippen dort, als er sagt: »Ich rede mit ihm.«
    »Wirklich?«
    »Ja.«
    Seine Hand wandert zum Saum des Lakens und streicht daran entlang. Langsam zieht er es nach unten, weg von ihrer Brust, bis die Wölbung ihres Busens entblößt ist, seine Blässe noch verstärkt durch das Mondlicht – und mit jedem Zentimeter, den er zieht, kneift sie die Lippen mehr zusammen. Er will sich auf sie legen und sie lieben mit der Leidenschaft, die manchmal aus kleinen Augenblicken des Zorns entsteht.
    Doch sie sagt: »Bitte tu’s nicht«, zieht das Laken wieder hoch und wendet sich von ihm ab.
    Er denkt an das Licht im Wald – das Aufblitzen und dann wieder Verlöschen, wie ein sterbender Stern – es erinnert ihn an dieses Gedicht. Früher spielten er und Karen dieses Spiel. Einer zitierte eine Gedichtzeile, und der andere ergänzte sie. Das Spiel stammte noch aus ihrer gemeinsamen Zeit im College, als sie am heftigsten ineinander verliebt, beständig gierig aufeinander waren. Wenn sie sich in seiner Wohnung auf dem knarzenden Futon geliebt hatten, las er ihr Gedichte vor, während sie in den Schlaf dämmerte.
    Jetzt hatte das Spiel etwas Hohles, zwei Menschen, die einander zuriefen wie Vögel in einem Wald. Vielleicht standen sie in der Küche, er schnitt Sellerie und sie schälte Kartoffeln – oder sie waren beim Wandern, und der Vordere drehte sich um, um nach dem anderen hinter ihm auf dem Pfad zu schauen. Er brauchte einen Augenblick, bis er die Worte fand, wie sie sich aneinanderreihten, und dann waren sie da: »Meine Gedanken sind boshaft und fahl / Meine Tränen wie Essig / Oder das bitter blinkende Gelb / Eines versäuerten Sterns.« Wenn er sie laut sagen würde, würde sie ihm antworten mit der »verzogenen Schnute des sauren Zitronenmonds« – oder würde sie nur tiefer atmen und so tun als würde sie

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