Wölfe der Nacht
ganz hinten in ihrer Unterwäscheschublade fand und sich irgendwie betrogen vorkam. Vielleicht sind das nur die Warzen, die in einer sich entwickelnden Ehe natürlich wachsen. Oder vielleicht haben Karen und er schon seit Längerem Schwierigkeiten, und er bemerkt es erst jetzt. Er will dem Baby die Schuld dafür geben, aber vielleicht hat dieses Baby nur die Laustärke dessen aufgedreht, was die ganze Zeit mitschwang.
Sie hat sich das Laufen angewöhnt. Jeden Morgen zieht sie pink Shorts und ein ärmelloses T-Shirt an, schnürt ihre Nike Laufschuhe und läuft fünf Meilen. Das ganze Fett, das sie während der Schwangerschaft angesammelt hat, schmilzt dahin und enthüllt straffe, harte Muskulatur, die aussieht wie das Exoskelett eines Wesens, das auf dem Meeresgrund lebt. An ihren Füßen entwickeln sich dicke Schwielen. Ihre Waden hüpfen, wenn sie geht. Ihre Unterarme sind ein Geflecht aus Adern. Sogar ihre Ohren wirken dünn.
Manchmal sieht Justin sie auf dem Weg zur Mountain View Highschool, wo er unterrichtet. Die Haare sind zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengefasst und geben den Blick auf ihr gerötetes, verdichtetes Gesicht frei. Ihre Zähne sind gefletscht. Ihre Beine pumpen, die Arme schwingen wild. Sie sieht aus wie eine Verrückte. Er hupt und winkt ihr jedes Mal, aber sie sieht ihn nie, so versunken ist sie in die Hitze und den Rhythmus ihres Laufens.
Normalerweise ist sie bereits weg, wenn er duscht und sich anzieht und zum Frühstücken hinunter in die Küche geht. Aber manchmal begegnen sie einander, so wie heute Morgen, als er sie vor dem Spülbecken stehen sieht, und sie zum Fenster hinausschaut und ein kleines Glas Orangensaft trinkt. Er sagt: »Hi«, und sie sagt: »Hey.« Er fragt sie, ob sie die Nachricht schon gehört habe, und als sie fragt: »Was für eine Nachricht?«, erzählt er es ihr.
Gestern Abend brachte Z-21, eine Tochter von NBC , in den Zehn-Uhr-Nachrichten einen Bericht über einen Bärenangriff bei Cline Falls.
Die Mädchen, zwei Teenager aus Prineville, hatten ihr Essen und ihre Kochutensilien stehen lassen, anstatt alles abzuwaschen und zu verpacken und an den höchsten Ast einer Lärche zu hängen. Im Frühjahr haben Bären einen schrecklichen Hunger, da sie den ganzen langen Winter verschlafen haben, und dieser war keine Ausnahme. Ein Hieb mit seiner Pranke zerteilte das Nylon wie ein Reißverschluss. Ihre Schreie vertrieben ihn nicht, stachelten ihn nur noch an, als er den Kopf eines Mädchens ins Maul nahm und daran kaute, bis die Schwarte sich vom Schädel löste. Das andere Mädchen, das versuchte, seiner Freundin beizustehen, wurde gegen die Wand des Canyons geschleudert, und dann übel zugerichtet. Sie stellten sich tot oder waren vor Schmerz ohnmächtig geworden, und nach einigen Minuten ließ der Bär von ihnen ab. Jetzt liegen sie beide in kritischem Zustand im St. Charles Memorial in Bend. »Es heißt, es war ein Grizzly.«
»In Oregon gibt es keine Grizzlys.«
»Das hat der Typ vom Forest Service auch gesagt, aber dieser andere sagte –«
»Ich muss los.« Sie stellt das Glas mit einem Klicken auf die Arbeitsfläche. Gelbe Fruchtfleischstückchen kleben an der Innenseite.
»Okay«, sagt er und öffnet den Schrank und holt eine Schachtel mit Cheerios heraus, die er klappernd in eine Schüssel schüttelt und mit Milch begießt. »Viel Spaß. Und pass auf wegen der Bären.«
»Mach dir um mich keine Sorgen«, sagt sie und läuft bereits zur Tür.
Er unterrichtet Englisch. Vor einigen Jahren überschlug sich ein Schüler namens Jimmy Westmoreland, nachdem er einen Zwölferpack Budweiser gekippt hatte, mit seinem Camaro und starb. Am nächsten Tag versammelten sich alle in der Turnhalle. Der Rektor – ein lederiger Mann, der seine Haare pechschwarz färbte und sie zu einer Elvis-Tolle frisierte – stand vor ihnen und murmelte ein paar Worte über Jimmy. Neben ihm stand ein Stuhl und darauf ein Gettoblaster. Aus den Lautsprechern kamen die schleppenden Stimmen und die unsauberen Gitarrenriffs von Lynyrd Skynyrd. Sie saßen da und lauschten »FreeBird« . Acht Minuten und dreiundzwanzig Sekunden waren noch nie so lange gewesen.
So eine Schule sind sie. Wranglers und Levi’s. Ford F-10 und Pontiac Firebirds. Das ganze alte Bend schickt seinen Nachwuchs dorthin – während die Flüchtlinge aus Portland und Kalifornien in ihren engen Designerjeans und auf Hochglanz polierten SUVs in der Highschool am anderen Ende der Stadt landen. Justin zieht Billy Joel
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