Wölfe der Nacht
denen es große Fre ude macht, genau das zu tun, was man ihnen sagt, die immer bitte und danke sagen, und nie sprechen, wenn sie nicht an der Reihe sind. Er trägt lieber Chinos als Jeans und steckt sich das Hemd in die Hose. Justin weiß nicht so recht, wie das passiert ist, wie Graham ein so selbstbeherrschter kleiner Mann geworden ist, denn tatsächlich hat Justin ihn immer ermutigt, ein bisschen abenteuerlustiger zu leben. Als Justin in diesem Alter war, sammelte er Frösche an den Flussufern und trug sie zur nächsten Straße, so dass er sie hoch in die Luft werfen und das Geräusch genießen konnte, wenn sie auf den Asphalt klatschten. Es war schrecklich, aber Jungs müssen schreckliche Sachen machen. Es liegt in ihrer Natur.
Graham ist anders. Er ist ein Junge, der Bücher Luftgewehren vorzieht, der jeden Morgen sein Bett macht und Computerspiele erst spielt, nachdem er seine Hausaufgaben gemacht hat, und nie um die Süßigkeiten bettelt, die an der Kasse stehen. Genau so ein Junge, dachte Karen zu der Zeit, der zu einem Fremden ins Auto steigt, wenn der ihm nur eine überzeugende Lüge erzählt, denn er will ihn ja nicht verärgern.
Sie fand Mrs. Glover, seine Lehrerin, in ihrem Klassenzimmer, wo sie sich durch einen Stapel Mathematik-Aufgaben arbeitete. Und nein, sie habe ihn nicht gesehen, nicht seit der Schlussglocke. Gemeinsam suchten sie das Schulgelände ab und fanden keine Spur von ihm. Mit jedem Zimmer, in das Karen schaute und das sie leer vorfand, wurde ein Wind in ihr stärker, bis sie das Gefühl hatte, ein Zyklon würde alles in ihr losreißen, was sich bis jetzt sicher befestigt angefühlt hatte.
Das erzählt sie Justin, während sie in Bend herumfahren, zum Videoladen, zur Pizzeria, zum Kino, zur Bibliothek und jede Stelle absuchen, die er kennt. Sie haben die Polizei angerufen. Sie haben jeden aus seiner Klasse angerufen. Jetzt bleibt ihnen nichts mehr übrig als zu suchen und zu warten. Willkürlich fahren sie die Straßen Bends auf und ab, und ihre Köpfe schwingen hin und her, während die Welt an der fliegenfleckigen Windschutzscheibe vorbeizieht. Karen hat ihr Handy in der Hand. Ihr Mund zittert die ganze Zeit, als könnte sie einen Schrei nur mühsam unterdrücken. Irgendwann einmal packt sie Justins Arm und drückt ihn, nur einmal. Er weiß nicht mehr, wann sie ihn das letzte Mal berührt hat – ihn wirklich absichtlich berührt hat. »Ich kann das nicht noch einmal durchmachen.«
»Mach dir keine Sorgen«, versucht er sie zu beruhigen. »Es wird schon alles wieder gut.«
Justin ist ein Mann mit einer ordentlichen Frisur, sauber auf einer Seite gescheitelt, im Nacken und an den Ohren präzise ausgeschnitten. Jetzt hebt er die Hand, um die Haare glatt zu streichen, ein Teil von ihm denkt, solange jedes Haar an seinem Platz ist, wird schon alles wieder gut werden.
Das wird es auch. Jemand entdeckt Graham in den Lava River Lanes, wo er mit einem merkwürdigen alten Mann in ledergesäumtem Sakko Bowling spielt. Binnen Minuten halten zwei Streifenwagen mit blinkenden Lichtern vor der Anlage. Zwei Hilfssheriffs stürmen hinein, vorbei an den Pool-Tischen und den Glücksspielautomaten, durch die Schwaden des Zigaret tenrauchs zur Bahn neun, wo sie Justins Vater finden, der beschlossen hat, Graham von der Schule abzuholen und ihm beizubringen, wie man eine Kugel mit Effet schiebt.
Als Justin ankommt, wartet sein Vater auf dem Parkplatz auf ihn, er lehnt, die Hände in den Taschen, an einem Streifenwagen. »Kann denn ein Mann nicht einmal einen Nachmittag mit seinem Enkel verbringen?«
»Natürlich, Dad. Es ist nur so, dass …«
»Nur was?«
Er ist nicht zu stoppen. Redet davon, dass Justin dem Jungen ein bisschen Spaß gönnen solle, dass er einem alten Mann seine Freiheit lassen müsse – und so weiter –, während seine Hände, große braune Dinger, durch seinen Bart fahren wie Pranken durch morsches Holz auf der Suche nach Larven und Würmern zum Fressen. In letzter Zeit ist er wilder geworden, und Justin hat noch mehr Angst vor ihm, er zögert, ihn herauszufordern.
Karen presst sich Graham an die Brust, drückt ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht fest an sich, als wäre er ein verlorenes Organ, das sie wieder in ihren Körper zwingen will.
Heute Nacht liegt Justin halb träumend im Bett. Durchs Fenster fällt ein Rechteck aus Mondlicht. In der Ferne rufen zwei Wapitis einander zu. Ihre mächtigen, dröhnenden Stimmen schrauben sich spiralig durch die Luft, wie durch eine
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