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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Lynyrd Skynyrd vor – und Starbucks Folgers –, und er merkt, dass er sich eher mit dem identifiziert, wozu Bend sich entwickelt, als mit dem, was es einmal war. Er überlegt oft, eine Versetzung zu beantragen oder vielleicht sogar wieder auf die Uni zu gehen, um auf College-Niveau unterrichten zu können, oder etwas ganz anderes zu tun.
    Früher einmal machte ihm sein Beruf sehr viel Spaß. Und dann passierte etwas. Dasselbe, was vielen Lehrern passiert, wie er vermutet. Die Arbeit fängt an, einem das Herz wund zu scheuern. Die Erschöpfung überfällt einen nicht plötzlich, sondern stetig und unaufhörlich, wie Wellen, die an einem Felsen nagen. Man heiratet. Man kauft ein Haus. Man hat ein Kind. Und eines Tages merkt man dann, dass zehn, zwölf Jahre vergangen sind, und in dieser Zeit ist man der schlechten Bezahlung müde geworden, den endlosen Papierstapeln, den Footballspielern, die mit verschränkten Armen in der letzten Reihe sitzen und sich permanent über alles nur lustig zu machen scheinen, mit einem blasierten Lächeln, das ihre Lippen nie verlässt.
    Manchmal fühlt er sich mitten in einer Stunde merkwürdig distanziert, getrennt von sich selbst, als würde er über dem Klassenzimmer schweben, getragen vom leiernden Murmeln seiner eigenen Stimme. Und wenn er von dort oben auf sie alle heruntersieht, wenn er in ihren Augen – wie er es in seinen Augen sah – die gleiche verhüllte Langeweile zu erkennen meint, dann hat er das Gefühl, völlig unbedeutend zu sein, als hätte nichts, was er sagt oder tut, einen Sinn.
    Heute Morgen schaut er während einer Prüfung zum Fenster hinaus und sieht ein hageres Tier, es könnte ein Hund oder ein Kojote sein, das am Rand des Sportplatzes entlang schleicht. Es hält den Kopf dicht am Boden, als hätte es eine Witterung aufgenommen, als würde es etwas verfolgen. Und dann verschwindet es im Schatten zwischen den Bäumen. Er beugt sich vor und versucht, es weiter zu verfolgen, aber es ist verschwunden, so plötzlich, dass er sich fragt, ob es überhaupt da war.
    Die Tür geht auf und reißt ihn aus seinem Halbtraum.
    Die Sekretärin steht da. Sie ist eine langbeinige Blonde, die den ganzen Tag damit zubringt, Anrufe durchzustellen, während sie in der neuesten Ausgabe von People oder US Weekly blättert. Heute trägt sie einen zu grellroten Lippenstift, der ihren Mund wie eine blutende Wunde wirken lässt. »Mr. Caves?«, sagt sie. »Ihre Frau ist am Telefon. Sie muss mit Ihnen sprechen.«
    Gut zwanzig Sekunden lang schaut er seine Schüler an und seine Schüler schauen ihn an. Dann sagt er: »Ich bin mitten im Unterricht. Worum geht’s denn?«
    Sie betrachtet ihre Nägel, als wären sie etwas ganz Besonderes. »Woher soll ich denn das wissen? Ich weiß nur, dass es ein Notfall ist.«
    Er schaut sich im Klassenzimmer um, fühlt seinen Magen wie einen Stein, während er versucht, diese Information zu verdauen. Die Uhr tickt sich auf drei Uhr zu. Jemand in der hinteren Reihe lässt seinen Kaugummi platzen, mit einem Geräusch wie ein brechender Ast. »Ihr habt noch fünf Minuten«, sagt er ihnen. »Wenn ihr fertig seid, legt den Test auf meinen Schreibtisch. Kein Abschreiben. Und vergesst nicht, als Hausaufgabe, Herz der Finsternis, die Seiten 50 bis 100.«
    Als er den Gang entlang zum Lehrerzimmer geht, ist er überzeugt, dass mit seinem Vater etwas passiert ist. Vielleicht ein Schlaganfall. Er fühlt sich merkwürdig ruhig, als hätte er diesen Anruf schon den ganzen Tag erwartet. Aber diese Ruhe weicht sehr schnell Panik, als er den Hörer ans Ohr drückt und seine Frau ihm von ihrem Sohn berichtet.
    »Es geht um Graham«, sagt sie. »Er ist verschwunden.«
    Sie fuhr zur Amity Creek Elementary School, wo Graham in die sechste Klasse geht, um ihn abzuholen. Aber er tauchte nie aus den Schwärmen rucksackschleppender Kinder auf, traf sie nicht oben am Kreisverkehr, wo sie mit laufendem Motor wartete wie immer. Fünfzehn Minuten vergingen, dann zwanzig. Sie stellte den Motor ab und stieg aus und versuchte, mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten zur Schule zu gehen, denn sie war sicher, dass es eine logische Erklärung gab. Wahrscheinlich hatte Graham Unfug angestellt und musste jetzt nachsitzen, Kreide von Tafeln wischen oder »Ich darf nicht mit Papierkügelchen schießen« immer und immer wieder auf liniertes Papier schreiben.
    Sie wusste es allerdings besser. Er hatte noch nie nachsitzen müssen und würde es wahrscheinlich auch nie. Er war eins der Kinder,

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