Wölfe der Nacht
dieser Wildnis aufgepflanzt würden.
Justin erkennt an Bobbys aufrechter Haltung, wie froh er ist, dieses Projekt jetzt zum Abschluss zu bringen, die Tausende von Entscheidungen und Kompromisse zu finden – die Parzellierung, die Erschließungsgenehmigung, die Verkehrs- und Umwelt- und Wasserprobleme – und den ganzen Rest, die scheinbar endlosen Auseinandersetzungen, die er in den letzten Jahren geführt hat.
Dann wird die Tür aufgerissen. Die Aufmerksamkeit verlagert sich augenblicklich, jeder dreht den Kopf zur Tür und sieht dort Tom Bear Claws, gefolgt von einem kahlköpfigen Reporter des Bend Bulletin mit einem Notizbuch in der Hand. Sie suchen sich einen Platz am Tisch und Tom klopft mit den Knöcheln auf das Holz, als würde er um Einlass bitten. »Tut mir leid, dass wir zu spät kommen«, sagt er.
»Ihr kommt nicht zu spät«, sagte Bobby mit einem dünnen Lächeln. »Ihr wart nie eingeladen.«
»Hey. Das hat jetzt meine Gefühle verletzt.«
Justin kennt Tom. Die meisten tun es. Seit ein paar Jahren, seit Justin den Fachbereich Oberstufenenglisch übernommen hat, lädt er Tom als Dozenten für Einheimische Amerikanische Literatur in sein Klassenzimmer ein. Justin genießt seinen spielerischen Zynismus, dass er selten irgendetwas zu ernst nimmt. Tom zieht dann einen Hocker vor die Klasse, klatscht seine Masse darauf, grinst sie alle mit seinem breiten, zerfurchten Gesicht an – die Haut hat die Farbe von Tabak – und erzählt und erzählt von Kojote und Maus und Gedankenfrau und dem Großen Geist, dem Schöpfer aller Dinge.
Einmal zog er Stiefel und Socke aus und zeigte die Klapperschlange, die auf seine Fußsohle tätowiert ist. Es gebe ihm die Macht, sich lautlos an seine Feinde heranzuschleichen, sagte er. »Also haltet besser die Augen offen.«
Ein anderes Mal las er ein Gedicht vor. Er hatte es auf gelbes Juristenpapier geschrieben. Er zog eine Bifokalbrille aus seiner Brusttasche, setzte sie sich auf die Nasenspitze und hustete in seine Faust, bevor er mit einer Stimme vorlas, die sich rhythmisch hob und senkte und sie alle in eine mystische Träumerei versetzte. Justin kann sich an den Wortlaut nicht mehr so genau erinnern. Irgendetwas in dieser Richtung: »Das Licht des Waldes ist rot. Die Wölfe der Nacht laufen durch es hindurch, und die Männer des Tages schrecken davor zurück. Unter der dunklen Decke der Bäume gehen Dinge verloren, werden gefangen und gefressen. Das Licht des Geistes ist ebenfalls rot.«
Als Justin Tom später fragte, ob er das Gedicht selbst geschrieben habe, sagte er: »Größtenteils.«
Justin hat ihn nie nach seinem Alter gefragt, aber er schätzt ihn auf etwa fünfzig. Seine Haare haben die Farbe ausgebrannter Holzkohle, er trägt sie immer zu einem Zopf geflochten. Um seinen Hals hängt ein Lederband, besetzt mit Wapitizähnen, aber er trägt auch Sportsakkos und fährt einen BMW und spielt regelmäßig Golf in Widgi Creek. Als Sprachrohr des Warm-Springs-Reservats wird er regelmäßig in den Zei tungen zitiert.
Sein Geld hat er mit der Anglerei gemacht. Schaut man in irgendeinen Fluss, irgendeinen See, findet man auf dem Grund – wie Münzen in einem schmutzigen Brunnen – Kronkorken, die glänzendsten Gegenstände im Wasser. Die Idee kam ihm wie selbstverständlich: Bier und Angeln gehen Hand in Hand. Man stanzt einander direkt gegenüber zwei Löcher in den Rand des Kronkorkens, drückt ihn zu einer Muschelform zusammen und befestigt einen Haken an einem Ende und eine Leitschnur am anderen. Die glänzende, wirbelnde Farbe lockt die Fische an.
Nach dem College arbeitete er lange Zeit für den Forest Service, doch nebenbei sammelte er bei den örtlichen Kneipen – The Elusive Trout, Big Dick’s Halfway Inn – die Kronkorken ein und verkaufte seine Köder übers Internet. Dann rief die Miller Brauerei an. Jetzt bekommt man seinen Sechserpack für 30 Dollar in so ziemlich jedem Outdoor-Laden und Angelbedarfsgeschäft im Land. Mit dem Geld unterstützte er die Gründung des Kah-Nee-Ta – des Warm Springs Wellness hotels und Kasinos –, wo Münzen aus Schlitzen klimperten und Wasserrutschen in Becken rauschten. Seit einigen Jahren wirbt er für eine weitere ähnliche Anlage – auf einem Grundstück außerhalb des Reservats bei Cascade Locks am Columbia River. 2005 unterzeichnete der Gouverneur einen Vertrag zwischen Stamm und Staat, der erste Schritt zur Einrichtung eines Glücksspiel-Trusts, aber seitdem ist nichts passiert, das Projekt hat sich im
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