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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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ihr Blick durch den Raum huscht und sich auf alles und nichts konzentriert.
    Sie kennt Bobby seit Jahren. Sooft sie und ihr Mann zu einer Party oder einer Wohltätigkeitsveranstaltung gingen, war er ebenfalls da, schlenderte durch den Saal, klopfte Schultern, schüttelte Hände. Einige Leute haben sich darüber beklagt, wie sehr Bend sich verändert hat, wie Bobby es verändert hat, die großen Parkplätze und die Betonkästen ihres neuen Einkaufszentrums, die hastig errichteten, neuen Wohnsiedlungen mit den beständig sich wiederholenden fünf Varianten einer Neo-Tudor-Fassade.
    Die beiden hatten noch nie auch nur ein Hallo, wie geht’s? Schön dich zu sehen gewechselt, bis sie sich vor zwei Wochen mit einer Freundin in der Deschutes Brewery traf. Aus einem Pint wurden drei. Sie geht so gut wie nie mehr aus, und das Bier war so kalt und sie war so durstig, und als sie von ihrem Barhocker aufstand, musste sie sich konzentrieren, um nicht zu stolpern. Sie fühlte sich warm und entspannt. Die Musik plätscherte aus den Lautsprechern an der Decke, und sie hätte gern getanzt. Als sie Minuten später aus der Toilette kam, stieß sie mit Bobby zusammen. »Ups«, sagte er und fing sie, seine Hände auf ihrer Taille, sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt. Sie spürte die Hitze, die er verströmte. Er ist viel älter als sie, aber attraktiv und fit und überbordend selbstbewusst. In diesem Augenblick küsste sie ihn. Direkt auf den Mund. Und er küsste sie zurück, aber zuerst lachte er, und als er es tat, spürte sie auch in sich ein Lachen. Und das war’s. Sie löste sich von ihm und kehrte zu ihrem Hocker zurück und schnappte sich ihre Handtasche und verabschiedete sich von ihrer Freundin und drehte sich nicht mehr um. Am nächsten Morgen hatte sie weniger ein schlechtes Gewissen, sondern zerbrach sich vielmehr den Kopf darüber, ob jemand sie gesehen hatte oder Bobby etwas sagen oder mehr wollen würde, als sie ihm geben wollte.
    Und jetzt sind sie hier. Sein viel zu zahnreiches Lächeln ist eine Herausforderung. Dieses Essen hier ist eine Herausforderung.
    Ihre Beine wippen unter dem Tisch. Sie ist heute Morgen zehn Meilen gelaufen, und sie will sich noch immer bewegen, über die Bürgersteige rennen, die sich durch die Stadt schlängeln. Sie hat so viel Energie, und weiß nicht, wohin damit. Das Innere ihres Körpers fühlt sich größer an als die Außenhaut. Sie weiß noch gut, dass sie sich als Teenager so fühlte. Wachstumsschmerzen nannte ihre Mutter das.
    »Und?«, fragte Bobby und wischt sich mit der Serviette den Mund.
    »Und.«
    Er hebt die Augenbrauen, und sie überlegt sich krampfhaft, was sie sagen soll. Seit mehr als zwölf Jahren hatte sie schon kein Rendezvous mehr – falls das überhaupt eins ist. »Erzähl mir etwas, das du in letzter Zeit gelernt hast.« Das fragt sie normalerweise Graham beim Abendessen. Sie würde sich am liebsten selber schlagen, sich mit der flachen Hand auf die Stirn klatschen.
    »Oh«, sagt er. »Gute Frage.«
    »Wirklich?«
    Er schneidet ein Stück Fleisch ab und steckt es sich in den Mund. Er legt Messer und Gabel nicht weg, sondern hält sie aufrecht, während er geräuschvoll kaut. »Hör zu. Hier ist eine Geschichte.« Er hat noch nicht geschluckt, aber das hält ihn nicht vom Reden ab. »Vor ein paar Tagen habe ich mir ein Grundstück angeschaut, das ich vielleicht kaufen will. Der Besitzer fuhr mit dem Makler und mir einen schmalen Feldweg entlang in eine Schlucht irgendwo am Ende der Welt – wirklich, am gottverdammten Ende der Welt. Wir schauen uns um und finden diese Drähte und Blechdosen mit Löchern darin. Anscheinend benutzten die Cowboys die Dinger, um wilde Pferde einzufangen. Wir reden vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie trieben die Pferde also in diesen Canyon, wo schon andere Männer warteten. Sobald die verstörten Pferde hereingerannt kamen, zogen diese Männer die Drähte straff, die sie zuvor auf den Boden gelegt hatten. An den Drähten hingen Stoffstreifen und Dosen voller Kieselsteine. Die Pferde glaubten dann, sie wären plötzlich eingezäunt. Und wenn sie gegen den Draht stießen, klapperten die Steine laut in den Dosen und schüchterten sie ein. Ist das nicht klasse?«
    »Ist es. Klasse.«
    Er schwenkt den Wein im Kelch, riecht ausführlich daran und öffnet die Lippen. Als er dann wieder spricht, ist die Hochachtung in seiner Stimme Verachtung gewichen. »Was für ein Haufen blöder Pferde. Und was für eine einfache Idee, sie

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