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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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dass Justin ihn nur sehen kann, wenn er sich bewegt. Es liegt eine große Schönheit im Spiel seiner Muskeln unter dem Fell. Er äst am Rand einer Wiese, und als Justin nun auf ihn zielt, bekommt er das Gefühl, das man bekommt, bevor man tötet. Ein kleiner Stich. Die Haut kribbelt. Alles in der Welt verschwimmt bis auf das Ziel, das jetzt so scharf ist, dass er jedes Haar und jede scharfe Geweihspitze sehen kann. Er könnte jetzt den Abzug drücken, aber irgendetwas bringt ihn dazu, das Gesicht vom Visier abzuwenden, denn er will den Augenblick mit seinem Sohn teilen.
    Hier kauert er nun und will seinem Sohn einen Rat geben, ihm vielleicht einen Arm um die Schultern legen und seine Waffe führen. Aber der Junge hat den Hirsch bereits entdeckt. Er merkt das an der Bewegungslosigkeit seines Körpers. Er ist wie ein Habicht auf einem Telefonmast, mit gespannter Aufmerksamkeit starrt er durch sein Visier.
    Justin schaut ihm schweigend zu. Im Gesicht seines Sohns passiert etwas. Ein Straffen des Unterkiefers und ein Weiten seiner Nasenlöcher, die voraussagen, was kommen wird. Er wird nicht um Erlaubnis fragen. Er wird schießen. Dadurch wirkt er distanziert und fremd. Er ist so gebannt in seinem Wunsch zu töten – dasselbe heftige und mächtige Gefühl, das den primitiven Mann dazu brachte, eine Obsidianklinge auf einen Stock zu stecken und sie zu schärfen –, dass sein normales Leben, die Schule und sein Fahrrad und sein Schlafzimmer mit dem Schreibtisch, der zerkratzt ist vom Scharren seines Bleistifts und dem riesigen Bierkrug voller Pennies und den Filmmonster-Postern, die an der Wand hängen, nichts mehr ist als eine winzige schwarze Fliege, die er mit der Hand wegwischt, bevor er sie an den Schaft legt und den Finger um den Kolben krümmt.
    Zuvor hat sein Großvater ihm erklärt, wie wichtig Präzision ist. »Ein Schuss«, hat er gesagt. »Eine Tötung.« Wenn man das Tier nicht sofort tötet, zuckt es nur zusammen und schreit auf und läuft in den Wald davon, so dass man den Blutlachen folgen muss, bis man es am Fuß eines Baums findet, wo seine Augen einen ansehen und fragen: Warum?
    Justin erwartet, dass er sein Ziel verfehlt. Es ist immerhin ein Schuss über zweihundert Meter bergab. Justin nimmt den Bock wieder ins Visier und bringt diese weit entfernte Welt näher und wartet auf das Krachen des Schusses. Bevor er die Kugel hört, sieht er, wie sie ihr Ziel erreicht, denn der Bock macht einen Satz in die Luft und läuft nach der Landung taumelnd davon. Erst jetzt kommt der Schussknall, laut wie die Art von Geräusch, die der Himmel machen würde, würde er aufbrechen.
    Sein Sohn steht jetzt und tiefe Furchen graben sich in seine Stirn, als würde er vor Justins Augen plötzlich altern. Graham wird das erst in einigen Jahren begreifen, aber als er den Abzug drückte, verlor er etwas, das er nie zurückbekommen wird.
    »Du hast ihn erwischt.« Justin streicht Graham stolz und zugleich traurig durch die Haare.
    »Ich habe ihn getötet?«
    »Das werden wir sehen. Du hast ihn erwischt. So viel weiß ich.«
    Vielleicht ist es ein Spiel des Lichts, ein Schatten der Kiefern äste, die über ihnen hängen, aber plötzlich scheint sein Gesicht dunkler geworden zu sein. »Aber er ist davongelaufen.« Justin kann nicht erkennen, was ihn mehr stört, die Möglichkeit seines Entkommens oder sein bevorstehender Tod.
    »So läuft das jetzt.« Justin erklärt, dass der Hirsch, falls es ein guter Schuss war, noch ein kleines Stück laufen und dann zusammenbrechen und noch ein paarmal zucken wird, bevor er verendet. Justin kommt es verkehrt vor, jemandem den Tod zu erklären, nachdem man ihm die Erlaubnis zum Töten gegeben hat. Nicht zum ersten Mal hofft er, er hat keinen Fehler gemacht, indem er den Jungen mitnahm.
    Justins Vater steht neben ihnen und sucht den Canyonboden ab. »Kann mir jemand sagen, was genau passiert ist?«
    »Graham hat einen Bock geschossen. Einen Fünfender, glaube ich.«
    Sein Vater kratzt sich abwesend den Bauch. Sein Mund geht auf und wieder zu und kann sich anscheinend nicht für ein Gefühl entscheiden, er drückt zugleich seinen Stolz und seine Verwirrung aus. »Ich habe überhaupt nichts gesehen.«
    »Der Bock war da. Graham hat ihn geschossen.«
    »Du hast ihn auch gesehen?« Das scheint ihn beinahe zu ärgern. »Warum habe ich ihn nicht gesehen?« Ein Windstoß reißt ihm den Hut vom Kopf. Er rollt ein Stückchen, bevor er ihn sich holt und wieder aufsetzt. »Ich hätte ihn auch gern

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