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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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siebte Jahr, das fünf Jahre zu spät kommt. Sie fühlt sich gelangweilt, aufgebracht, beengt, niedergedrückt.
    Bobby fragt: »Was ist das Schönste, das du je gesehen hast?«
    Sie lächelt und senkt den Kopf – sie kann sich nicht entscheiden, ob er kindisch oder charmant ist. Eine solche Frage hätte ihr vor langer Zeit ein Junge stellen können, als sie im Auto oben auf dem Gipfel des Pilot Butte saßen, mit den Sternen über ihnen und den Lichtern der Stadt unter ihnen gleich hell.
    »Ich weiß es nicht.« Sie will sagen, wie ihr Sohn ihr zwischen den Beinen herausgezogen und zwischen ihre Brüste gelegt wurde und das Blut durch die Nabelschnur noch zwischen ihnen floss, aber sie tut es nicht. Stattdessen greift sie zu ihrem Glas und schwenkt den Inhalt. »Und du?«
    »Du.«
    »O Mann. Du weißt aber, wie man dick aufträgt, was?«
    »Hey, ich meine das ernst.«
    »Aha.«
    »Du bist fantastisch. Das bist du wirklich.«
    Sie merkt, dass sie mit ihren Haaren spielt, sie schüttelt, sich eine Strähne um den Finger wickelt und dann wieder loslässt. »Ich bin verheiratet, Bobby.«
    »Ich glaube nicht wirklich an die Ehe. Ich habe es dreimal probiert, weißt du, deshalb bin ich bei dem Thema in gewisser Weise ein Experte. Und meiner Meinung nach ist die Ehe widersinnig. So ticken wir nicht. Will man sein ganzes Leben lang immer dieselben Hosen tragen oder dasselbe Gericht essen? Ich liebe dieses Ribeye, aber ich würde es mir nie und nimmer jeden Tag bestellen.«
    »Dann bin ich also Fleisch für dich?« Sie kann nicht einschätzen, wie sie klingt, ob flirtend oder spöttisch.
    »Wir sind alle Fleisch, Karen. Aber ich habe das nur als Analogie gemeint.«
    Als die Rechnung kommt, greift sie danach, obwohl sie weiß, dass er darauf bestehen wird zu bezahlen. Aber danach zu greifen vermittelt ihr kurzfristig ein Gefühl der Kontrolle. Und dann liegt seine Hand da, auf der ihren, schwer und gebräunt und von Adern überzogen. »Die Rechnung gehört mir.«
    Sie überlässt sie ihm, ohne ihre Hand wegzuziehen.
    »Gehen wir noch zu mir«, sagt Bobby, es ist keine Frage, sondern eine Aussage. »Einen Drink vielleicht?«
    Sie schaut auf ihre Uhr, ohne die Zeit zu erkennen. »Ich glaube nicht.«
    »Hast du was Besseres zu tun?«
    »Ich muss noch laufen.«

JUSTIN
    Sie brauchen eine halbe Stunde, um den sonnenhellen Canyonrand zu verlassen und über die Serpentinen wieder hinunterzusteigen in die kühlere Senke. Der Wind lässt nach und die Temperatur fällt. Quellwasser macht den Boden morastig.
    Justin schaut sich oft über die Schulter und sucht die Grate ab, er wird das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden, vor allem, wenn sie den Schutz der Bäume verlassen und über eine Lichtung gehen. Er denkt an Seth, ob er vielleicht zum Lager zurückgekehrt ist, sie verfolgt und sein Zielfernrohr auf ihre Rücken richtet. Er bekommt davon ein Gefühl, wie er es bei dem Glasauge hatte, ein Kribbeln, als würde eine Fliege mit ihren Stachelbeinen über seine Haut krabbeln.
    Sie erreichen den South Fork an einer Stelle, an der Weißwasser über Felsbrocken donnert. Sie gehen weiter flussaufwärts, bis sie einen glasigen Abschnitt finden, der von einer Ansammlung von Felsen durchschnitten ist. Auf Händen und Füßen klettern sie darüber, während Boo durchs Wasser pflügt, sich am anderen Ufer schüttelt und ermutigend bellt.
    Eine Weile steht Justins Vater auf einer sandigen Erhebung und dreht sich im Kreis, bis er schließlich in nordöstliche Richtung deutet. »Ich glaube, da geht’s lang.« Justin kann ihm nur vertrauen, da er selber die Orientierung verloren hat.
    Ohne eine Fährte, der sie folgen könnten, marschieren sie durch den Wald, ducken sich unter Ästen, steigen über umgestürzte Stämme, schlagen sich die Schienbeine an Baumstümpfen und scheuchen Eichhörnchen auf, die im Schatten nach Nahrung suchen. Die Bäume und Felssimse schützen sie größtenteils vor dem Sonnenlicht. War der Boden zuerst eben, beginnt er nun langsam anzusteigen. Pferdebremsen umschwirren ihre Körper und saugen ihnen das Blut aus der Haut. Justins Vater schlägt sich mit der Hand in den Nacken und flucht, als würde der Wald sich gegen ihn verschwören.
    Irgendwann dreht Justin sich um, um zu sehen, wie es seinem Sohn geht, ihn zu fragen, ob er einen Schluck Wasser will, und findet nichts außer den Bäumen und ein paar verstreuten roten Stauden des Indianischen Malpinsels. Sein Mund öffnet und schließt sich, als würde er nach einer

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