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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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gesehen.«
    »Jetzt ist er verschwunden«, sagt Graham und hebt, um den Canyon abzusuchen, das Gewehr so flüssig ans Gesicht, dass es wirkt wie eine natürliche Verlängerung seines Körpers.
    Als Justin zum allerersten Mal etwas tötete – ein Rotkehlchen mit einem Luftgewehr –, spürte er einen schwarzen Stein in der Kehle und Nässe in den Augen. Jetzt betrachtet er seinen Sohn. Was Justin zuvor in seinem Gesicht gesehen hat – Gier –, ist verschwunden, aber Graham sieht nicht aus, als würde er gleich weinen. Falls seine Augen feucht sind, dann nur vom Wind. Er wirkt blass und ernüchtert und ein bisschen enttäuscht über sich selbst, wie ein Mann, der einen Hund überfahren, der gehört hat, wie sein Körper feucht unter den Reifen seines Pick-ups zerquetscht wurde, und jetzt erkennt, dass er an den Straßenrand fahren und den Kadaver in den Graben werfen muss.

KAREN
    Sie ist Restaurants wie dieses nicht gewöhnt, eine ehemalige Schmiede, die zu einem Salon mit Speisesaal im kalifornisch schicken Stil umgebaut wurde. Die Wände bestehen aus Backsteinen und Basalt, die mit grobem Mörtel verfugt sind. Die Stühle sind aus schwarzem Leder, die Tische aus dunkler lackierter Kiefer. Die gedämpfte Beleuchtung wird ein bisschen heller gemacht durch die vielen Spiegel, die im gesamten Speisebereich verteilt sind. In ihrem Wasser schwimmt eine Zitronenschale, die Fruchtfleisch absondert und saures Blut vergießt. Als der Kellner ihr die Serviette auf den Schoß legt, weiß sie nicht, ob sie Danke sagen soll oder Verschwinde.
    Dann ist da noch der Mann ihr gegenüber, Bobby Fremont. Seine Augen scheinen nie von ihr zu weichen, sein Blick ist gierig und forschend, er zieht ihr die Bluse über den Kopf, hakt ihren BH auf, schiebt ihr den Rock hoch. Sie fühlt sich zugleich geschmeichelt und erniedrigt. Vielleicht ist das der Grund, warum sie hier ist – um sich so zu fühlen.
    Bend ist eine so kleine Stadt, dass sie sich oft umschaut und nach einem vertrauten, verwunderten Gesicht sucht. Was sie zu einem Freund oder Kollegen sagen würde, weiß sie nicht so recht. Sie hebt ihr Wasser an den Mund. Eis klappert gegen ihre Zähne. Sie hat ihr Glas bereits ausgetrunken.
    Ihr Ehemann ist einige hundert Meilen weit weg, und die Distanz fühlt sich gut an. Fühlt sich richtig an. Als sollten sie eigentlich getrennt sein. Justin redet nicht gern darüber, wie ihre Beziehung sich verschlechtert hat, aber hin und wieder, wenn er schlechter Laune ist oder ein paar Bier getrunken hat, kann sie ihn zu einem Streit provozieren. »Du bist nicht mehr der Mensch, den ich geheiratet habe«, sagte er vor ein paar Wochen. Sie widersprach ihm nicht.
    Er dachte, es sei wegen des Babys. Aber das ist es nicht. Das Baby war nur eine schwarze Tür, die sie in ein entferntes Zimmer des Hauses führte, in dem die Fenster einen anderen Ausblick boten. Sie ist unglücklich. Sie mag ihr Leben nicht, so wie es ist, und sie glaubt, dass ihre Ehe etwas damit zu tun hat. Manchmal hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie fliehen will. Immerhin hat sie, was viele andere ein beneidenswertes Leben nennen würden. Ein wunderbares Kind, eine gute Arbeit, ein hübsches Haus. Sie sieht gut aus und ist gesund. Sie lebt im Schatten der Berge. Manchmal geht sie diese Liste durch, zählt an den Fingern all die Dinge ab, für die sie dankbar sein sollte. Sie versucht zu lächeln. Aber wenn sie lächelt, fühlt sich das eher an wie ein Riss, der durch die Kehle hindurch zu irgendeiner Dunkelheit in ihr führt.
    Sie geht gern online und gibt bei Google Begriffe ein wie »Beulenpest« und »Genozid« und »Elephantitis« und sogar »Reizdarm«. Sie blättert durch die Websites und schaut bestürzt die Fotos an und fühlt sich dann kurzfristig besser.
    Der Kellner – ein dunkelhaariger Mittzwanziger mit Koteletten – kommt an ihren Tisch und serviert ihnen das Essen: Das Ribeye-Steak für Bobby und in der Pfanne gebratener Heilbutt für sie. Der Kellner fragt, ob er sonst noch etwas für sie tun kann – noch etwas Wasser vielleicht? »Ja«, sagt sie. Dasselbe Wort hat sie zu Bobby gesagt, als er anrief und sie fragte, ob sie sehr beschäftigt sei, ob sie mit ihm zum Mittagessen gehen wolle. Ja. Automatisch. Ohne nachzudenken, eine reine Reaktion. Sie weiß nicht so recht, wozu sie noch Ja sagen wird – sie weiß nicht einmal, was sie sonst sagen sollte, wie sie sich so gegenübersitzen, sein Blick beständig auf ihr, nach ihren Augen suchend –, während

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