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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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zu fangen.« Seine Augen, die bereits auf ihr ruhen, scheinen ihren Fokus zu verengen. »Man braucht keine Bäume oder Holz oder stundenlange Arbeit, muss nicht darauf warten, bis der Geruch der Männer verflogen ist.«
    Sie trinkt einen Schluck Wasser.
    »Muss keine gezähmten Pferde bis zur Erschöpfung reiten, um einer durchgehenden Herde nachzujagen.«
    Sie trinkt noch einen Schluck, und dann ist ihr Glas wieder leer bis auf das Eis, unter dem die Zitrone begraben ist wie ein ertrunkener Kanarienvogel. Sie schaut sich im Restaurant nach ihrem Kellner um, kann ihn aber nirgends entdecken, und als sie sich wieder Bobby zuwendet, merkt sie, dass er sie noch immer anschaut.
    »Was ist mit dir?«, fragt er.
    Sie merkt, dass sie pinkeln muss. »Was ist mit mir?« Sie trägt die Haare offen. Das macht sie schon seit Längerem nicht mehr. Es fühlt sich fremdartig an, wie es über ihr Gesicht streicht und ihre Sicht zur Seite beschränkt. Sie fühlt sich maskiert hinter ihren Haaren, versteckt. Das ist gut. Da das Restaurant gut gefüllt ist und draußen auf der Straße viele Leute vorbeigehen, ist das Risiko hoch, von jemandem entdeckt zu werden.
    »Was hast du in letzter Zeit gelernt?«
    »Hm. Mal sehen.« Sie senkt den Blick auf seinen Teller, den Wald aus Broccoli am Rand. »Hast du gewusst, dass Broccoli so ziemlich das Blähendste ist, was man essen kann?« Ihr Mund scheint jemand anderem zu gehören. Sie kapiert nicht, warum sie das gesagt hat. Vielleicht weil es ihr egal ist? Aber wenn es ihr egal wäre, würde sie jetzt im Augenblick nicht vor Verlegenheit unter den Tisch kriechen wollen.
    Sein Lächeln schwindet einen Augenblick, bevor es sich wieder in seinem Gesicht festsetzt. »Muss ich mir merken.«
    »Tut mir leid.«
    »Was?«
    »Ich bin an so etwas einfach nicht gewöhnt.«
    »Ist doch okay.«
    »Wirklich?«
    Bobby schneidet wieder in das Steak. »Wir essen doch nur zu Mittag.«
    »Mehr nicht?«
    Ihr gefällt die Art, wie Bobby sie ansieht, so intensiv und so anders als ihr Mann, dessen Augen sie nicht mehr suchen, immer auf etwas anderes gerichtet sind, ein Buch, einen Stapel Papiere, das Fenster. »Schau mich doch einfach an, wenn ich mit dir rede.« Aber sie weiß auch, wenn er sie wirklich einmal ansieht – gierig, wenn sie aus der Dusche steigt und das Handtuch vom Halter zieht –, wünscht sie sich, er würde weggehen. Vielleicht weil es das einzige Zusammensein mit ihr ist, das er noch will; ansonsten könnten sie, was ihn angeht, auch in ihren getrennten Zimmern bleiben. So fühlt es sich auf jeden Fall an. Sie ist verwirrt. Sie beide sind verwirrt. Sie weiß das.
    »Willst du wissen, was ich noch gelernt habe? Ich habe gelernt, dass jeder Mensch zwei Gesichter hat. Es gibt das äußere Gesicht, die Maske, die man für die Welt trägt, und das innere Gesicht, das nur herauskommt, wenn die Jalousien heruntergelassen und die Türen geschlossen sind.«
    »Ist das wirklich so?«
    »Ja. Es ist so. Ich will dir ein Beispiel geben. Du kennst doch Tom Bear Claws?«
    »Den Indianer. Der dich hasst.«
    »Genau der. Hast du gewusst, dass er mich nicht hasst und ich ihn nicht hasse? Dass wir tatsächlich sogar Freunde und Geschäftspartner sind? Hast du das gewusst?«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Weil du nur das äußere Gesicht kennst.« Er hebt sein Weinglas und hält es so, dass ein Auge, jetzt riesig und vorquellend, sie durch das Glas anschaut. »Äußeres Gesicht, inneres Gesicht.«
    »Wahrscheinlich.«
    Sie schaut nach draußen, wo eben eine Wolke vor die Sonne zieht und die Welt verdunkelt. Ihr Spiegelbild erscheint im Fenster. Ihre Haare bedecken den Großteil ihres Gesichts, aber sie kann ihre Lippen sehen, und sie sind rot und zu einem merkwürdigen Lächeln nach oben gebogen. Diese Frau hat sie schon lange nicht mehr gesehen, und sie er kennt sie nicht wieder.
    »Du siehst wunderschön aus, weißt du.«
    Sie lacht bellend.
    »Was ist?«
    »Sag das noch mal.«
    »Du siehst wunderschön aus?«
    »Das habe ich lange nicht mehr gehört. Es ist nett, es zu hören.«
    In Träumen muss man manchmal rennen – weil etwas einen verfolgt –, aber so sehr man sich auch anstrengt, der Körper reagiert wie mit Bleigewichten beschwert. Ihr geht es oft so. Sie fühlt sich, als würde sie durch einen Tagtraum waten. Aber sie wird nicht verfolgt. Stattdessen verfolgt sie etwas, vielleicht nur ein Gefühl: Lebendigkeit.
    Sie ist sich nicht sicher, wie man so etwas nennt. Eine Midlife-Crisis. Das verflixte

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