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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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lässt. Er sagt ihnen, dass ihre Ohren nicht mit den Körpern mitwachsen – vom Jungen bis zum Silberrücken haben sie immer dieselbe Größe –, so dass man das Alter eines Bären in etwa so abschätzen kann: Je kleiner die Ohren im Verhältnis zum Kopf wirken, desto älter ist das Tier.
    Sie gehören zu den Tieren mit dem komplexesten Verhalten. »Sie sind praktisch so intelligent wie Menschen«, erklärt Graham, und sein Großvater knurrt leise, als würde er dem zustimmen.
    Justin lächelt ihn mit nervösem Humor an und sagt dann zu Graham: »Nur so aus Neugier, was steht da über Grizzlys?«
    Sein Vater fragt: »Warum?«
    »Kannst du dich noch an diese beiden Mädchen erinnern, die vor ein paar Monaten von einem Bären angegriffen wurden? Bei Cline Falls. Es hieß, es sei ein Grizzly gewesen und –«
    »In Oregon gibt es keine Grizzlys.«
    »Ich weiß, aber- «
    »Nicht mehr seit der Depression. Das war zumindest das letzte Mal, dass jemand einen zur Strecke gebracht hat.«
    »Bin doch nur neugierig, okay? Kann nichts schaden, das mal nachzuschlagen.«
    Als Antwort darauf trinkt sein Vater einen Schluck Bier und bewegt den Kopf auf den Schultern, um den Nacken zu strecken.
    »Schau einfach nach«, sagt Justin.
    Graham wartet, ob sein Großvater widerspricht, blättert dann ein Stückchen weiter und beginnt wieder zu lesen. »Ursus arctos horribilis.« Er hat ein wenig Schwierigkeiten mit der Aussprache, doch als er Justin fragend anschaut, nickt er, damit der Junge weiterliest. Graham sagt ihnen, dass Grizzlys sich von Beeren, Wurzeln, Nagetieren, Kiefernkernen, Elchen, Wapitis, Bergziegen, Schafen ernähren und hin und wieder auch einen Menschen reißen. »Die fressen so ziemlich alles.« Sie haben ein konkaves Gesicht. Ihre Tatzen sind schwarz mit runzliger Haut auf der Innenfläche, und ihre Krallen sind lang und gebogen und werden benutzt, um Wurzeln auszugraben und Schlafplätze auszuhöhlen. Sie haben einen ausgeprägten Höcker am Nacken. Dieser Höcker ist tatsächlich kräftige Muskelmasse, die es ihnen ermöglicht, ihre Vorderpranken mit erstaunlicher Kraft zu schwingen. Sie leben in Alaska, Kanada, Idaho, Montana, Washington und Wyoming. »Dann sind wir sicher, hm, Dad?« Er hält kurz inne, um einen Schluck Bier zu trinken, als wäre es für ihn das Normalste auf der Welt.
    Kurz davor hat sein Großvater eine Handvoll Erde aufgehoben, und jetzt bewirft er Justin damit, beschmutzt seine Brust, seinen Schoß. Justin wischt die Erde weg und ignoriert ihn, bis er nach einer zweiten Handvoll greift.
    »Warum machst du das?«
    »Keine Ahnung.«
    »Dann lass es sein.«
    Er grinst und richtet sich auf und sieht sich um, als würde er nach etwas anderem zum Werfen suchen.
    »Moment mal«, sagt Graham. »Da ist noch eine Fußnote.« Sein Blick wandert zum unteren Rand der Seite. »Die North Cascade Recovery Area liegt in Washington. Ihre gut 4000 Hektar sind begrenzt vom Mount Baker/Snogualmie National Forest, dem Korridor der I-90, dem Ostrand des Wenatchee/Okanogon National Forest und dem Loomis Forest. Die Grizzly-Population hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht, und der Forest Service sagt voraus, dass die Anzahl exponentiell wächst und der Bär seinen Platz in Nordamerika irgendwann wiedergewinnen wird.«
    Nun steht Boo auf und mustert den Wald, als würde er einem weit entfernten Ruf lauschen, der nur für seine Ohren zu vernehmen ist. Sein Schwanz wedelt zögerlich, und dann schnaubt er, es ist fast ein Bellen. Justins Vater tätschelt dem Hund den Kopf. »Guter Junge.« Er scheint nicht im Geringsten daran interessiert, was der Hund gewittert oder gesehen hat. Er ist viel zu sehr mit seinem Bier beschäftigt, das jetzt wie automatisiert von seinem Schenkel zum Mund wandert. Der Hund schaut ihn kurz an, bevor er noch einmal jault und mit der Zunge nervös über die Schnauze wischt, als könnte er in der Luft nicht nur etwas riechen, sondern auch schmecken.
    »Hört euch das an«, sagt Graham mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen. »Es ist hundertmal wahrscheinlicher, dass man an einem Bienenstich stirbt als bei einem Bärenangriff, und hunderttausendmal wahrscheinlicher, dass man bei einem Autounfall stirbt.«
    In dieser Aureole umgeben von so viel Dunkelheit fühlt Justin sich nicht sehr beruhigt. Falls ihr Bär ein Grizzly ist, dann fragt er sich, was ihn aus Washington hierher gelockt hat – das wärmere Wetter vielleicht, der endlose Vorrat an Mülltonnen und

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