Wölfe der Nacht
Auch während sie ihr Abendessen und das angenehme Brennen in ihren Muskeln genießen, beobachtet Justin die langen, trockenen Grate, die dunkel über ihnen aufragen, er kann das Gefühl nicht abschütteln, dass sie von Augen beobachtet werden, die sie nicht sehen können.
»Du isst jetzt, was du erlegt hast«, sagt Justins Vater zu Graham, bevor er sich eine Gabel voll Fleisch in den Mund schiebt. »Das ist Verantwortung. Das ist etwas, worauf man stolz sein kann.«
Graham kann nicht anders, er muss grinsen, über das Kompliment, das Bier in seiner Hand. Justin stellt sich vor, dass sein Sohn heute einen kurzen Ausblick ins Erwachsensein in all seiner Schönheit und Hässlichkeit erlebt hat, wobei die Hässlichkeit größtenteils vergessen sein dürfte, als er sein Messer in sein halb gegessenes Steak rammt und sich ein Stück abschneidet.
Die Sonne versinkt in einem Riff aus Wolken und hinter den Bergen, und der Himmel rötet und verdunkelt sich dann. Die Bäume sind grün, als sie anfangen zu essen, und während der Himmel dunkler wird, werden sie zuerst violett, dann schwarz. Justin zieht Stiefel und Socken aus und genießt das Gefühl von Gras und Erde, wie sie an seinen Sohlen kribbeln. Seine Haut brennt und seine Muskeln ebenfalls, aber auf angenehme Art. Auf verdiente Art. Es ist lange her, dass er einen ganzen Tag in der Sonne verbracht hat, schwitzend und sich auf seine Muskeln ebenso sehr wie auf seinen Verstand verlassend. Er denkt oft daran: Wie unwirklich dieses Tagein-Tagaus der schulischen Routine doch wirkt, die Schulstunden, die Aufsätze, die Konferenzen. Wenn er abends auf seinen Tag zurückblickt, fühlt er sich leer, obwohl ihm der Kopf dröhnt, er weiß nicht so recht, was er wirklich geleistet hat, und es kümmert ihn auch nicht. Jetzt hingegen fühlt er sich sehr voll.
Er denkt daran, wie er als Kind oft mit seiner Mutter allein zu Abend aß. Er fragte sie dann, wo sein Vater sei, wann er nach Hause kommen werde, obwohl er die Antwort kannte. Er war auf einer Baustelle, wo er einen Schaufelbagger fuhr oder Verputz mit einer Kelle glättete oder einem anderen sagte, was er zu tun habe. Er kam dann immer erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause und ließ sich mit einem erschöpften Lächeln auf dem Gesicht und einem Bier vor der Brust auf die Couch fallen. Justin wunderte sich immer über dieses Grinsen, erst als Erwachsener konnte er es verstehen. Sein Vater erlebte dieses Gefühl am Ende jedes Tages, und na ja, darauf konnte man schon neidisch sein.
BRIAN
Er trägt seine Fellmaske und sonst nichts, als er zum Wandschrank in der Diele geht und seine Hanteln herausholt. Er weiß, dass der Schlaf noch lange auf sich warten lässt. Und er weiß, wenn das Gift sich in ihm aufbaut, sind die Eisen die beste Lösung. Er hat das beim Militär gelernt, was für eine gute Therapie das hirnlose Gewichtheben ist. Er hebt die Hanteln hoch und legt sie wieder ab, er liebt das schwere Atmen, das Klacken, wenn er noch eine Scheibe auf die Stange steckt, die blendend rote Explosion, wenn in seinem Auge ein Kapillargefäß platzt.
Die Hanteln wiegen jeweils vierzig Pfund und er bewegt sie auf und ab, um seinen Bizeps zu trainieren. An Hals und Unterarmen treten gezackt die Adern hervor. Sein Atem unter der Maske geht haa-hiiee, haa-hiie.
Im Fernseher läuft eine dieser Sendungen, in denen arme Familien ihr Heim zerlegt und nach ihren Bedürfnissen neu aufgebaut bekommen. Im Augenblick läuft der Moderator, ein hyperaktiver Mann mit blond gebleichten Haaren, mit einem Megafon durch das verwüstete Haus und schreit die Bauarbeiter mit fröhlicher, psychotischer Stimme an: »Wir müssen uns beeilen, Leute. Wir haben nur zwei Tage, um das Leben dieser Familie völlig zu verändern.«
Er macht Liegestützen. Er macht Frontdrücken im Stehen. Er geht in die Knie und springt hoch und macht Wadendehnen. Er macht Trizepsstrecken und Schulterpressen, gefolgt von Frontheben und seitlichem Heben, und die Gewichte werden immer schwerer, die Handflächen werden so rot wie die Spitze seiner Erektion, die ihm dabei wächst.
Er holt sich ein Bier. Und dann noch eins. Er trinkt zwischen den Übungen und das Wohnzimmer versinkt in einem traumhaften Nebel. Als er die Hanteln schließlich absetzt, ist die Sendung fast vorbei. Die Familie – sechs Kinder und eine alleinerziehende Mutter mit Krebs – weint, als sie ihr neues Haus besichtigt. Es gibt einen Plasma-Großbildschirm und ein in die Wand eingelassenes
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