Wölfe der Nacht
schleifen.
Nach einer Minute steht er auf und schlägt die Zeltlasche zurück und späht nach draußen. Der Mond ist verschwunden. Die Sterne werfen ein dürftiges Licht. Die Dunkelheit scheint im Wald verankert, und so scheint der Wald die Nacht zu besitzen.
Er denkt an den Angriff bei Cline Falls und daran, dass eins der Mädchen nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus Z-21 ein Exklusivinterview gab. Ihre Eltern saßen links und rechts von ihr auf der Wohnzimmercouch. Sie hielten ihr die Hände und nickten bei ihrem Bericht mit besorgten Mienen. Sie trug eine Baseballkappe, als sie erzählte, dass sie von einem Knurren geweckt worden sei. Sie erinnerte sich, dass das Zelt um sie herum zusammenbrach, das Gewicht des Bärs auf sie drückte. Sie erinnerte sich an seine riesige schwarze Gestalt vor dem sternenhellen Himmel, die sie zu Boden schlug, als sie davonlaufen wollte. An seinen heißen Atem, als er ihren Kopf ins Maul nahm und darauf herumkaute, um ihn aufzubrechen. In diesem Augenblick habe sie rein gar nichts gespürt, versicherte sie dem Reporter. Sie sei viel zu verängstigt gewesen, um irgendetwas zu spüren. Sie habe nur hören können. Das schwere Keuchen um sie herum. Und das Geräusch der Zähne auf ihrem Schädel, wie ein Rechen, den man über Beton zieht. Nach einer Weile habe er sie ausgespuckt und sich geschlichen. Alleine und weinend habe sie in der Dunkelheit gelegen. An dieser Stelle nahm sie ihre Kappe ab und zeigte dem Reporter, wie ihre Schädelschwarte zu einer riesigen Narbe verheilt war, die aussah wie zerkauter Kaugummi in den Geschmacksrichtungen Erdbeere und Weintrauben.
Die schwarze Undurchdringlichkeit der Nacht verleitet zu solchen Gedanken. Justin kann nicht anders, er stellt sich ein Schicksal vor, das noch viel schlimmer ist als das des Mädchens. In einem Monat wird jemand seine Jacke am Eingang einer Höhle finden, zerrissen und blutfleckig. Auf einem Haufen, vielleicht neben einer primitiven Feuerstelle, werden Knochen liegen, einer auf dem anderen, alle gefurcht von scharfen, kleinen Kerben – von Zähnen – und aufgebrochen und alles Mark aus ihnen gesaugt.
KAREN
Als sie sich im Bett umdreht und ihren Arm auf die leere Ma t ratze neben sich legt, mit der Hand die Senke seines einge drückten Kissens ertastet, als sie die Decke abwirft und nackt durchs Haus geht, in dem die Jalousien heruntergelassen sind, so dass nur das Sonnenlicht um ihre Ränder lugt, als sie nur genug Kaffee für eine halbe Kanne mahlt, als sie in der Zeitung blättert und die einzelnen Teile nachlässig verstreut, merkt sie, dass sie ihre Familie nicht vermisst, überhaupt nicht.
Zum Frühstück isst sie Apfelspalten auf Hüttenkäse und spült sie mit einer schnellen Tasse Kaffee hinunter. Der Apfel ist organisch, der Hüttenkäse ist organisch und der Kaffee ist organisch und stammt aus fairem Handel. Bei jedem Bissen stellt sie sich vor, dass sie die Qualität der Nahrungsmittel in sich aufbrechen und sich in Nährstoffe auflösen spürt, die ihren Körper aufbauen, anstatt ihn kaputt zu machen. Sie zieht ihren Sport-BH und Shorts an, schlüpft in ihre Laufschuhe und bindet sie mit einer Doppelschleife zu. Dann ist sie aus der Tür draußen und steht auf der Veranda, wo sie ein paar Minuten lang Dehnübungen macht und ihre Muskeln spürt, die so straff sind wie ihre Haut in der kühlen Bergluft.
Sie hofft, dass es Graham gut geht, vor allem bei diesem Hurensohn von Großvater, der ihn herumkommandiert, als wäre er sein eigener Sohn, nur eine andere Version von Justin, einen, den man nach eigenem Belieben formen, einen Mann aus ihm machen kann. Sie wünscht sich wirklich, sein Herz würde einfach den Geist aufgeben. Die Welt, denkt sie, wäre dann besser dran. Sie weiß, dass es furchtbar ist, so etwas zu denken, aber sie kann nicht anders, sie muss es einfach.
Sie will heute zehn Meilen laufen – die Aubrey Butte rauf und runter, vorbei am Drake Park auf ihrem Weg ins Stadtzentrum – und dann noch eine Meile gehen, um sich abzukühlen. Sie schaut auf die Uhr und vermutet, dass sie in gut einer Stunde wieder zurück sein wird.
Sie fängt langsam an. Nach den ersten hundert Metern hören ihre Gelenke, die zuerst steif und wie verrostet waren, auf zu knacken und zu protestieren. Ihre Muskeln werden warm, locker und gut durchblutet. Sie beschleunigt, ihre Arme und Beine durchschneiden in präzisen Winkeln die Luft. Das Geräusch ihrer Laufschuhe auf dem Bürgersteig entspricht dem
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