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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Sechserpack fühlen würde. »Wie wär’s mit einem Foto?«, fragt er mit ei nem leichten Lallen in der Stimme. »Ich habe noch nicht viele Fotos geschossen. Ich würde jetzt gern eins machen.«
    Graham geht zur anderen Seite des Feuers, und Justin macht sich bereit, ihn aufzufangen, aber er schafft es ohne stolpern und hebt die Kamera vors Gesicht und sagt: »Cheese.« Er lächelt, als wäre er das Motiv, und Justin beugt sich zu seinem Vater und hebt sein Bier, als das grelle Licht des Blitzes sie überspült und kurz die Nacht vertreibt.
    In diesem Augenblick kommt Boo aus der Dunkelheit getrottet, im Maul einen Knochen mit einem Fetzen Jeansstoff daran. Justins Vater sagt: »Aus!«, und nimmt den Knochen und steht dann auf, starrt den Knochen in seiner Hand an und weiß nicht, was er damit tun soll. Boo keucht und wedelt heftig mit dem Schwanz und mit dem ganzen Körper, und Justins Vater schaut ihn nur an. Justin weiß nicht, was er im Augenblick empfindet. Seine Gefühle sind maskiert, hinter seinem Bart versteckt.
    In den frühen Morgenstunden wacht Justin mit einem lebhaften Gefühl der Gefahr auf. Er streckt den Arm aus und berührt seinen Sohn, nicht um ihn zu wecken, sondern um ihn zu spüren. Jeder Nerv in seinem Körper ist hellwach. Die Frösche scheinen in ihrem Trommeln ungewöhnlich laut zu sein, und die Dunkelheit jenseits der Zeltlasche wirkt zu still.
    Es ist dieses bekannte Gefühl, wenn sich einem die Nackenhaare aufstellen. Man weiß einfach Bescheid. Justin weiß, dass draußen etwas steht und das Zelt anstarrt. Er konzentriert sich aufs Hören, öffnet seine Ohren für das leiseste Geräusch, versucht, das Rauschen des Flusses auszublenden und zu entscheiden, ob das, was über das Zelt streicht, eine Hand oder eine Pranke oder nur der Wind ist.
    Vielleicht wartet er zehn Minuten, vielleicht eine Stunde, es ist schwer zu sagen, denn er schwebt in der Grauzone zwischen Wachen und Träumen –, doch dann bemerkt er, dass nur Zentimeter von seiner Pritsche entfernt die Zeltwand sich bewegt, nach innen gedrückt wird. Das ist nicht der Wind. Das ist ein komprimierter Druck – gerundet und anwachsend –, der sich langsam auf ihn zubewegt. Eine Schnauze oder eine Tatze. Eine Schnauze, entscheidet er, als er das scharfe Ausatmen – huff – an der Leinwand hört. Er setzt sich auf und lehnt sich von der Einbuchtung weg, da sie nur noch gute zwei Zen timeter von seinem Gesicht entfernt ist. Die Leinwand ist bis zum Zerreißen gespannt. Eine Zeltstange verhindert, dass sie sich noch weiter dehnt. Er stellt sich vor, dass die Stange sich in der Erde lockert und so die Schnauze weiterdrücken lässt, ihm direkt ins Gesicht. Er stellt sich vor, was da auf der anderen Seite lauert – ein muskulöser Kopf, breiter als sein Oberkörper, mit einer knopfschwarzen Nase, die er im Augenblick schnuppern und blasen hört, als sie den Geruch des Zelts erkundet und herauszufinden versucht, was darin versteckt ist. Und er stellt sich vor, dass ihm schließlich das Gesicht abgerissen wird wie eine Maske und mit einem schaumigen Schmatzen verschluckt wird.
    Er spürt einen Schrei in seiner Kehle und dämpft ihn zu einem Hauchen, indem er die Kiefer so fest zusammenpresst, dass hinter seinem Ohr etwas klackt. Er muss sich sehr anstrengen, um nicht aus seinem Schlafsack zu steigen, eine Warnung zu rufen und seinen Vater zu wecken, damit sie zu ihren Gewehren greifen und im Tandem schießen können.
    Stattdessen macht er etwas, das er nicht völlig versteht. Er hebt langsam die Hand. Er sieht sie zitternd steigen, wie ein von einem Aufwind geschüttelter Vogel, auf die Schnauze zu, die inzwischen die Leinwand mit ihrem Speichel durchtränkt und einen dunklen Umriss wie eine geschmolzene Fledermaus hinterlassen hat. Seine Hand stockt kurz, dann hält er den Atem an und berührt die Stelle so sanft, wie er noch nie etwas berührt hat.
    Sofort zieht sich die Schnauze zurück, und die Leinwand kehrt in einer trägen Bewegung zu ihrer ursprünglichen Form zurück. Er wartet so lange, dass es ihm vorkommt wie die längste Stille seines Lebens, und ist sich dabei sicher, dass das Zelt jeden Augenblick zusammenbricht oder unter dem plötzlichen Hieb einer Kralle aufreißt.
    Dann hört er, was eine Zunge sein muss, die sich die Lefzen leckt – der Speichel zischt und britzelt auf fast elektrische Art. Das Klacken aufeinandergeschlagener Zähne. Und ein Schlurfen, als das Ding sich trollt und seine Tatzen durchs Gras

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