Wölfe der Nacht
bewarfen das Mädchen, ihre Haare, ihren Rücken, ihren Hintern. Karen sah das alles, als würde es im Fernsehen passieren, als wäre das Mädchen ein lahmendes Gnu und die Jungs Krokodile mit langen Zähnen. Erst als das Mädchen mit ausdruckslosem Gesicht davonstolperte – sich mit den Händen über Bluse und Hose wischte, um sie zu säubern, sich stattdessen aber nur das Ketchup verschmierte –, sprang Karen auf und rannte auf die Jungs zu und knallte ihre Hand auf den Tisch und befahl ihnen aufzuhören – Hört verdammt noch mal damit auf . Sie sollten sich schämen, schleuderte sie ihnen entgegen.
Sie hat Angst um das Mädchen. Es wird im Lauf der Zeit immer blasser und fetter werden. Es wird aufs Community College gehen. Es wird in ein Einzimmerapartment ziehen, mit einem Fernseher mit Holzverkleidung an einer Wand und an der anderen Meerschweinchen, Käfig auf und neben Käfig gestapelt wie Wohnungen in einem Block. Der Teppich wird übersät sein mit Holzspänen und Scheißekügelchen. Es wird in der Bibliothek oder in der Führerscheinbehörde arbeiten, und ihre Kollegen werden hinter ihrem Rücken darüber tuscheln, dass sie nach Sellerie und Holz und Urin riecht. Sie wird allein sterben. Das alles macht Karen verdammt traurig. Weil sie weiß, dass das Mädchen etwas Besseres aus sich machen könnte. Es gibt so viele Wege, die man einschlagen, so viele Richtungen, für die man sich entscheiden kann.
Karen denkt oft darüber nach, über die vielen verschiedenen Lebenswege, die ihr offengestanden hätten. Sie hätte den Jungen heiraten können, mit dem sie in der Highschool gegangen war, Doug, den Linienspieler mit den blauen Augen und dem langen, dünnen Penis, in welchem Fall sie wahrscheinlich in Portland geblieben und mit ihm gestorben wäre, als er vor ein paar Jahren auf dem Santiam Pass frontal mit einem Holzlaster zusammenstieß. Oder sie hätte ihr College-Stipendium dazu nutzen können, nach Europa zu reisen und dort langsam durch Museen zu schlendern und enge schwarze Jeans zu tragen und Schokocroissants in Freiluftcafés zu essen. Oder sie hätte vor ein paar Jahren vergessen können, die Batterien im Rauchmelder zu wechseln, und hätte so nicht rechtzeitig das Feuer bemerkt, das sie ausgelöst hatte, weil sie den Speck zu lange auf dem Herd ließ, und vielleicht hätte dann die Rauchvergiftung ihr Gehirn geschädigt oder die Flammen hätten ihr Gesicht verbrannt, so dass es ausgesehen hätte wie geschmolzen. Und in jeder dieser Möglichkeiten lagen eine Million anderer Möglichkeiten, jede abhängig davon, ob man ans Telefon gegangen war, ob eine Stufe vereist oder eine Tür verschlossen war, und aus jeder würde sich eine andere Karen ergeben, die unterschiedlichen Versionen von ihr sich durch die Zeit verästelnd wie das Gewirr aus Straßen und Feldwegen, die ihr jetzt zur Verfügung standen, so gepflastert mit Ehrgeiz wie sie versperrt und durchlöchert waren von Unzulänglichkeit, so dass sie manchmal das Gefühl hat, sie bräuchte sich eigentlich gar nicht anzustrengen und könnte ebenso gut den ganzen Tag auf der Couch liegen und Cherry Garcia Eiskrem in sich hineinschaufeln.
Bäume säumen die Straßen, auf denen sie läuft. Sonnenlicht blitzt durch die Äste und durch die Strahlen fallen die Nadeln der Goldkiefern und die gelben Blätter der Birken und Espen. Die Jahresringe eines Baums, das weiß sie, erzählen eine Geschichte. Ein feuchtes Jahr produziert einen breiten Ring. Ein Feuer oder eine Krankheit oder Trockenheit produzieren einen schmalen. Die Bäume wachsen um Stacheldraht herum, um Steine, um abgebrochene Sägeblätter, sie schlucken das alles einfach. Einmal hat sie eine Geschichte eines Holzfällers gehört, der tief in einem Baum einen Zahn fand. Früher war sie nicht so vergiftet in ihrem Denken. Wenn sie an die Toxine denkt, die sich nach vielen Jahren nachlässiger Ernährung in ihrem Körper angesammelt haben, an den Groll, der in fünfzehn Jahren Ehe stetig angewachsen ist, an die Hautstreifen und die Krampfadern, die zwei Schwangerschaften hinterlassen haben, von denen nur eine erfolgreich war, dann glaubt sie, dass das Innere ihres Körpers eine Geschichte erzählen muss wie ein Baum. Würde sie sich einen Knochen brechen, dann würde der vielleicht aussehen wie die Innenseite eines Kaffeebechers – überzogen von Linien, gesprenkelt mit braunen Flecken.
Sie läuft auf Kiesbanketten und sie läuft auf hügeligen Fahrradwegen und sie läuft auf Landstraßen.
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