Wölfe der Nacht
Der Tunnel der Bäume öffnet sich – unterbrochen von Rechtecken aus braunem Gras, die enden in Veranden voller Kürbisse und Strohballen – und an einer schmalen Asphaltstraße beginnt plötzlich ein Fußweg, und auf ihm läuft sie, während die Häuser immer näher und näher zusammenrücken. Fünf Krähen hocken auf einem Zaun und starren sie an. Als sie vorbeiläuft, öffnet eine der Krähen ihre Flügel und stößt einen hohen, klagenden Schrei aus.
Ihre Füße hämmern gegen den Beton. Sie hat einmal gelesen, dass ihr Knie bei jedem Laufschritt das Achtfache ihres Körpergewichts absorbiert. Das wären über vierhundert Kilo. Das erstaunt sie, die Tausende von Kilo, die sie ihrem Körper bei jedem Lauf zumutet, die Widerstandskraft ihres Körpers. Es vermittelt ihr ein Gefühl der Macht. Nicht wie ihr Job, ihre Ehe, in denen sie sich manchmal vorkommt wie eine Puppe aus transparentem Plastik, so substanzlos, dass man durch sie hindurchsehen kann.
Es gab natürlich eine Zeit, da sie sich anders fühlte, sich am lebendigsten fühlte, wenn sie mit Justin zusammen war. Sie tat dann gern so, als wäre sie in der tintigen Umklammerung eines der Gedichte, die er ihr im College vorlas, in dieser Zeit, als die Welt definiert war von Lachen und freudvollem Stöhnen, Bars und Cafés, Reden und Lesen bis tief in die Nacht, gemeinsamem Duschen und gegenseitigem Haarewaschen. Aber das war früher.
Dann kam eine Zeit, in der sie früh einschliefen und beim Abendessen fernsahen. Und es gab Dinge, bei denen sie am liebsten laut aufgeschrien hätte. Wie er die Musik aus dem Radio mitsummte. Wie er immer wieder vergaß, die Lüftung anzustellen, so dass sie dastehen und den Gestank seiner Scheiße einatmen musste, wenn sie sich schminkte. Wie er darauf bestand, die Zeitung in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Wie sein Schnarchen als leises Tuckern anfing und sich dann in ein kehliges Röhren verwandelte, wie von einem Boot mit Außenbordmotor, das von einem Dock ablegt und ins offene Wasser hinausfährt. Die Bücher in ihrem Arbeitszimmer haben sich verändert: Aus einer bunten Mischung aus Sylvia Plath und Kate Chopin und Danielle Steele ist ein Handapparat reiner Fachliteratur geworden, Ernährung fürs Leben, Ballaststoff-Diät, Was man erwarten kann, wenn man in freudiger Erwartung ist , nichts Lustiges oder Bedeutungsvolles mehr.
Die Romantik, davor das Wichtigste, wurde zum Unwichtigsten. Die Romantik gehörte zu ihrem egoistischen Teil, dem Teil, der auf die eigene Gier reagierte, der sich fütterte und nicht andere. Ehe, Kinder: Sie ließen sie immer mehr nach außen blicken anstatt nach innen. Es war, als hätte sie, lange bevor sie das Baby verlor, sich selbst verloren. Die alte Karen – die sie noch gelegentlich in einem Foto entdeckte, auf dem sie Zigarettenrauch durch die Lippen blies oder in einem roten Bikini auf einem Badetuch lag – war im Lauf der Jahre immer mehr geschrumpft, wurde ersetzt durch jemanden, der anderen diente. Sogar in der Arbeit, wenn sie Mädchen beriet, die sich den Finger in den Hals steckten, oder Jungs, die ganze Tüten Kartoffelchips auf einmal verdrückten, war sie selbstlos, ließ zu, dass sie sich in deren Leiden verfing und ihr eigenes vernachlässigte.
Aber in letzter Zeit findet sie – durch das Laufen, bei dem sie Schweiß und Fett verliert, die sich anfühlen wie Jahre angehäuften Gifts, so dass ihr Körper sich leichter, beinahe schwebend anfühlt – wieder zu sich, stürzt sich wieder gierig in die Welt, wie sie es vor vielen Jahren an der Sprungbrücke tat.
Die Sprungbrücke war eine Eisenbahn-Hängebrücke, die in der Nähe ihrer Highschool über den Fluss führte. Der Geruch von Öl und Formaldehyd stieg von den Schwellen hoch, wenn sie und ihre Freundinnen fünfzehn Meter über dem Wasser daraufstanden. Sie zogen sich bis zur Unterwäsche aus, und schlotternd und mit Gänsehaut standen sie auf den Holzbalken, krümmten die Zehen über den Rand und riefen einander zu: »Du zuerst« und »Nein, du zuerst«.
Karen weiß noch gut, wie sie über den Rand trat, der Wind ihr in den Ohren brauste, der Fluss ihr entgegenraste, wie sie sich schwerelos fühlte, kurz bevor ihr Körper durch die Wasseroberfläche stieß. Sie presste dann die Füße fest zusammen, um schmal wie eine Nadel so tief zu tauchen, dass ihre Zehen den schlammigen Grund berührten, ohne zu wissen, was da unten war, und ohne sich darum zu scheren. Einmal schaffte sie es bis ganz nach unten und
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