Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
Vom Netzwerk:
Schlagrhythmus ihres Herzens. Tief zieht sie die kühle Luft in die Lunge und stößt sie warm wieder aus.
    Sie ist in der Form ihres Lebens. Manchmal steht sie nackt vor dem Spiegel und betrachtet ihren Körper. Sie ist stark gebräunt bis auf die scharf umrissenen blassen Stellen ihrer Shorts und ihres Sport-BHs, wo ihre Haut nach einem scharfen Lauf so weiß und feucht ist wie etwas, das man aus einer Muschelschale zieht. Sie streckt sich dann oder geht auf der Stelle, nur um ihren Körper sich bewegen, die Muskeln schwellen zu sehen, als wäre unter der dünnen Hülle ihrer Haut etwas gefangen.
    Ihr gefällt ihr Aussehen. Und sie weiß, dass es auch anderen gefällt, kennt ihre Wirkung auf Männer. Sie kann in keine Videothek gehen, ohne von einem Angestellten verfolgt zu werden, der sie fragt, ob sie lieber Komödien oder Liebesfilme sieht, in keinen Lebensmittelladen, ohne von einem Bestücker gefragt zu werden, ob sie Hilfe braucht. Es gefällt ihr, dass man sich nach ihr umdreht, sie anlächelt. Aber das Gefühl der Macht und das der Machtlosigkeit trennt nur ein sehr schmaler Grat, wie zum Beispiel jetzt, da ein Mann in einem roten Dodge abbremst, um neben ihr herzufahren. Sie versucht, ihn zu ignorieren. Er macht das unmöglich, indem er das Fenster herunterkurbelt und ruft, ob sie weiß, wie man mit einem Schaltknüppel umgeht?
    Sie schaut ihn nicht an, schreit aber zurück: »Ich weiß, wie man ein Nummernschild liest.«
    Darauf flucht der Mann etwas, das im Wind und im Motorenlärm untergeht, als er aufs Gas steigt. Sie fragt sich, warum so viele Männer mit der Überzeugung durchs Leben gehen, sie seien die Jäger und die Frauen die Beute? Sie fragt sich, woher das kommt, diese Gier, ob es angelernt oder angeboren ist, ein Klauen-und-Zähne-Impuls aus dieser längst vergangenen Zeit, als wir noch durch den Wald rannten und in Höhlen schliefen. Vielleicht ist das der Grund, warum es ihr mit diesem Schlüsselmann so gut gefiel. Sie spürte, dass er sie begehrte – aber er war so klein, dass sein Begehren wirkte wie das eines Kinds, fast süß, auf jeden Fall harmlos.
    Natürlich sieht sie dieselbe grausame Gier sogar in Kindern, sieht sie in den Highschools, die sie als Ernährungsberaterin besucht. Vorgestern war sie an der Obsidian Junior High, sie saß in der Cafeteria an einem Tisch mit einem Junk-Food-Display. Sie hatte alle möglichen drastischen Klischees zur Hand, darunter einen Batzen kerzenwachsgelbes Fett in einem Glasbehälter und einem Schild, das es gleichsetzte mit einem Whopper, großen Pommes und einem Schoko-Shake bei Burger King. Hin und wieder blieb ein Schüler kurz stehen und sagte »Krass« oder »Wie geht’s, Mrs. C.?«, die meisten aber ignorierten sie, gingen einfach vorbei mit Tabletts, auf denen sich Kartoffel-Käse-Plätzchen und frittierte Hühnerteile türmten. Im Gewirr der Leiber erregte ein Mädchen ihre Aufmerksamkeit, ein pickeliges Mädchen mit krausen Haaren und einem Körper wie eine Henne. Sie sah bereits aus wie Anfang dreißig, konnte aber nicht älter als vierzehn sein. Sie saß mit ihren Freundinnen zusammen, alle ein wenig abseits vom Rest, mit dicken Brillengläsern und schiefen Zähnen und selbstgemachten Frisuren und Kleidern. Sie spielten irgendein Spiel – Pokemon oder Magic oder etwas Ähnliches – und das hennenförmige Mädchen stand auf und beugte sich über eine Ansammlung von Karten. An einem Nachbartisch fing eine Gruppe Jungs in Nike-Klamotten an zu johlen und zu kichern und mit den Fingern auf das Mädchen zu zeigen, und anfangs dachte Karen, es seien einfach nur Jungs, die irgendeinen gemeinen, idiotischen Jungs-Witz über einen fetten Arsch rissen. Dann fiel ihr der rote Fleck auf, der sich innen auf dem Schenkel des Mädchens ausbreitete; sie trug eine hellblaue Jeans, auf der das Blut unglaublich grell aussah. Sie hatte ihre Periode und merkte es überhaupt nicht, hatte sich keine Binde eingelegt, vielleicht, weil sie zuvor noch nie eine gebraucht hatte.
    Zuerst tat Karen nichts. Sie war keine Lehrerin und nicht permanent an der Schule beschäftigt, deshalb fühlte sie sich manchmal so, als hätte sie mit dem, was in den Gängen und Klassenzimmern ablief, nichts zu tun. So sah sie nur zu, wie die Jungs lachten und spotteten, sah zu, wie einer von ihnen ein Kartoffelplätzchen in Ketchup tauchte und auf das Mädchen warf, sah zu, wie es sie am Kopf traf und feucht in ihren Haaren klebte, und bald machten die übrigen Jungs es ihm nach, sie

Weitere Kostenlose Bücher