Wölfe der Nacht
ist.
JUSTIN
Sie brechen auf, um ihren letzten Tag im Canyon zu genießen. Sobald sie unter den Bäumen sind, wandern helle Flecken Sonnenlicht über ihr Gesicht und das Geräusch des Flusses weicht der Stille des Waldes. Heute wollen sie es an einer anderen Stelle versuchen, einer Rodung an der Südspitze des Canyons. In früheren Jahren hat Justins Vater dort fünf Böcke geschossen, mitten im weiten Feld der Baumstümpfe, und so betrachtet er die Stelle als eine vielversprechende und ihm gehörende.
Sie gehen auf einem festgetrampelten Wildwechsel, einem schmalen Band aus Erde, wie poliert von vielen Jahren polternder Hufe. Boo läuft voraus, während sie seinem mäandernden Verlauf zwei, vielleicht drei Meilen folgen. Sie kommen wieder an den Fluss und wandern an ihm entlang. Das Wasser stürzt auf sie zu, scheint sie zu bremsen, dorthin zurückzuschieben, woher sie gekommen sind.
Hin und wieder läuft der Hund mit einem Stock zu Justins Vater, und er wirft ihn in den Wald, und der Hund jagt, durchs Unterholz brechend und laut nach seinem Schatz schnuppernd, hinter ihm her. Graham sieht aus, als wolle er mitspielen, ohne so recht zu wissen wie. Schließlich findet er auch einen Stock, er schält die Rinde ab und schlägt damit gegen die Stämme an seinem Weg, bis sein Großvater ihn mit einem Blick anschaut, der heißt, er solle es lassen.
Irgendwann am Vormittag setzt Justins Vater zu einem seiner Monologe an. Er hat so viele Theorien – über 9/11, Waffen, Homosexuelle, Deodorants als Auslöser für Alzheimer und so weiter –, und diese spezielle Theorie betrifft das Ende der Welt. Justin weiß nicht, wie er auf dieses Thema gekommen ist –, vielleicht irgendeine Frage, die Graham ihm gestellt hat, oder vielleicht sein eigener, entschlossener Wunsch, die Ziegelsteine darzustellen, die aufeinandergestellt und vermörtelt die Welt ergeben, wie er sie sieht.
»Ich denke, in dreißig, vielleicht vierzig Jahren sind wir nicht mehr da. Es ist der Kreis des Lebens. Die Natur findet Mittel und Wege der Selbstheilung, sich der Umweltverschmutzung, der Umweltsünder und des ganzen Mülls zu entledigen, der die Harmonie des Ganzen stört. Denn genau das sind wir. Müll.« Seine Stimme wird langsamer und tiefer, um der Prophezeiung Nachdruck zu verleihen. »Könnte ein Virus sein. Ein Asteroid. Eine Bombe. Und puff – Problem gelöst. Das menschliche Problem.«
Justin blendet die Stimme aus, während er sich einen Weg durch ein Stechapfelgestrüpp bahnt, und hört statt dem Geplapper Boo jaulen. Dann verstummt der Hund, seine Nackenhaare sind aufgestellt. Ein Zittern geht durch sein Fell und lässt es kleine Wellen schlagen wie ein schwarzer Nebenarm des Flusses, an dem sie stehen.
Und dann kommt von irgendwo am anderen Ufer des South Fork ein Geräusch – ein tiefes Ächzen, das einige Sekunden andauert –, und sie alle verstummen. Boos Kopf deutet wie eine Kompassnadel zur Quelle des Geräuschs, zum Wald.
»Still!«, sagt sein Vater, als Justin den Mund öffnet. Eine Hand hat er am Ohr, die andere hält das Gewehr. Als sie dann einige Sekunden lang nichts mehr gehört haben, fragt Justin: »Glaubst du, das ist der Bär?«
Darauf hat er keine Antwort, denn in diesem Augenblick rennt Boo los und springt in den Fluss. Der Hund schwimmt, wild vor Energie, erstaunlich gerade und sauber durch das Martyrium der Stromschnellen. Aber das Wasser fließt schnell und schäumend und zieht den Hund gut dreißig Meter flussabwärts, bevor er das andere Ufer erreicht. Dort schüttelt er sich schnell und rennt über die Sandbank und in den Wald, um Augenblicke später wieder aufzutauchen und heftig irgendetwas zwischen den Bäumen anzubellen.
»Boo!«, schreit Justins Vater. »Boo, verdammt noch mal, komm wieder rüber!«
Der Hund beachtet ihn nicht, sondern rennt, weiter bellend, einen weiten Kreisbogen, bevor er in einem anderen Teil des Unterholzes verschwindet. Sein Gebell ist scharf und laut, und so können sie ihn durch den Lärm des Flusses noch hören, lange nachdem er zwischen den Bäumen aus ihrem Sichtfeld verschwunden ist. Äste brechen. Gestrüpp raschelt. Und dann setzt eine Stille ein, die in diesem tiefen Canyon zu still wirkt.
Staub hängt in der Luft und weht über den Fluss. Er legt sich auf ihre Haut. Sein Vater kann nicht aufhören, den Kopf zu schütteln. Er beißt sich auf die Unterlippe, und Justin erwartet beinahe, dass Blut hervorquillt. Seine Augen sind eingebrannte Punkte in einem im
Weitere Kostenlose Bücher