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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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feucht von Speichel und am Hintern aufgerissen. Er stellt sich seinen Sohn darin vor, wie Zähne an ihm nagen, ihn aufreißen.
    Das ängstigt ihn am meisten, der Anblick dieser Unterhose. Sofort sieht er das Gesicht seiner Frau vor sich; es ist verschlossen, abweisend, wie eine Tür, für die er keinen Schlüssel hat. Er fragt sich, um wie viel versteinerter sie noch werden wird, wenn er ihr davon, von ihrer Zeit im Canyon erzählt.
    Er untersucht den Sack. Er ist noch zu benutzen, wenn er ihn sich beim Gehen an die Brust drückt. Die lange, fransige Wunde, die ihm gerissen wurde, kann genäht werden. Er macht sich daran, ihre Kleidung, den Müll und die Kochutensilien einzusammeln. Als er die Hand auf die Bratpfanne legt, kriecht ihre Kälte seinen Arm hoch, zusammen mit dem Gefühl, beobachtet zu werden. Er sucht den Wald in seiner Umgebung nach Bewegungen ab. Ein Eichhörnchen bearbeitet einen Kiefernzapfen, ein Meisenhäher flattert zwischen den Bäumen umher.
    Als er zum Lager zurückkehrt, verschwindet dieses Gefühl nicht.
    Seine Füße fühlen sich kalt und blutleer an, während er auf dem Feuer Kaffeewasser kocht. Der Geruch der gemahlenen Bohnen weckt seinen Vater. Er kommt in seinem weißen T-Shirt und seiner durchlöcherten Unterhose aus dem Zelt. Er streckt sich und gähnt theatralisch, und das Geräusch lockt Boo aus dem Zelt. Er nimmt sofort den Stiefel zwischen die Zähne und präsentiert ihn Justins Vater, wie eine Katze es mit einer toten Maus machen würde. »Verdammt, Boo.« Sein Vater nimmt den Stiefel und droht damit dem Hund. »Böser Hund. Böser Hund.«
    Boo kläfft einmal und legt verwirrt den Kopf schief, und sein Vater untersucht den Stiefel. »Das Ding sieht aus, als wäre es in einen Häcksler geraten«, sagt er, bevor er ihn dreißig Meter weit in den Fluss wirft. Kurz schwimmt er auf dem Wasser, treibt von ihnen weg wie eine abgefeuerte Kugel in Zeitlupe, dann versinkt er.
    Justin bemüht sich um einen neutralen Ton. »Ich glaube, wir sollten von hier verschwinden.«
    »Sag bloß nicht, dass du Angst hast.«
    Justin erzählt ihm von letzter Nacht – dem Besuch –, und dann von heute Morgen – dem abgerissenen Ast. Während er redet, geht sein Vater zu dem Sack, der wie ein ausgenommenes Tier neben dem Zelt liegt. Er tritt dagegen, und die Pfannen und Teller darin klappern.
    »Ich will weg. Okay? Können wir fahren?«
    »Werden wir.«
    »Wann?«
    »Werden wir.«
    »Aber wann? Wann werden wir?«
    »Heute Abend. Wie geplant.« Sein Vater lächelt beinahe, das sieht Justin. Ist es die Gefahr, die ihn reizt, der Flirt damit?
    »Denk an Graham.«
    »Weißt du nicht mehr? Es ist eine Million Mal wahrscheinlicher, dass man an einem Bienenstich stirbt. Weißt du das nicht mehr?«
    »Hundert Mal.«
    »Hundert. Eine Million.« Er zuckt die Achseln, als wäre das kein Unterschied. »Seit über fünfzig Jahren komme ich jetzt hierher. Und hatte nie irgendwelche Probleme.«
    »Das ist ein Problem.« Justin deutet auf den Sack als Beweisstück. »Du hast dein Problem direkt vor deinen Füßen.«
    Anscheinend starrt Justin ihn mit nackter Wut im Gesicht an. Um sich dagegen zu wehren, verschränkt sein Vater die Arme. »Diesen Ort wird es morgen nicht mehr geben«, sagt er. »Ich habe nur noch ein paar Stunden, um ihn zu genießen. Ich werde jetzt ein schönes Frühstück essen. Und dann werde ich gute, frische Luft atmen. Und ich werde den Vögeln lauschen und ein bisschen wandern. Dann werde ich einen Hirsch schießen, einen großen.« Mit der Zunge greift er nach einer Bartsträhne, zieht sie in den Mund und kaut. »Und weder du noch ein Hinterwäldler oder ein Bär können mich davon abbringen.« Er klopft Justin auf den Schenkel – nur einmal –, wie um dem Satz Nachdruck zu verleihen und die Diskussion ein für alle Mal zu beenden.
    Graham wacht mit einem Rasseln in der Brust auf. Er sitzt am Lagerfeuer und hustet in seine Faust und geht zu einem anderen Klappstuhl, als der Wind sich dreht und ihm Rauch ins Gesicht bläst, der den Husten noch schlimmer macht. Sobald er kann, saugt er an seinem Inhalator, gibt sich zwei Einheiten Albuterol. Das hilft ihm schließlich, mehrere Batzen Schleim aus der Lunge zu husten. Er spuckt sie ins Feuer, wo sie zischen.
    Als der Husten endlich aufhört, erwarten sie die Geräusche des Morgens. Der Fluss. Das Flattern von Krähenflügeln in einem nahen Busch. Das Pfeifen eines Murmeltiers. Das Geräusch von etwas, das sich von einem Baum löst und durch die

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