Wölfe und Kojoten
flickte.
Heute hat der Hafen den größten Teil
seines Flairs verloren. Thunfischfang und -handel sind praktisch tot, seit die
beiden letzten Konservenfabriken der Stadt Anfang der achtziger Jahre zugemacht
haben. Es wird noch Fisch die Küste hinauf an eine Konservenfabrik bei L. A.
geliefert, aber nur noch sehr wenige Schleppnetzfischer laufen den Hafen von
San Diego an. Der größte Teil des kommerziellen Fischfangs ist inzwischen von
kleineren Kuttern übernommen worden. Die Piers der alten Thunfischflotte sind
geschlossen worden und verfallen langsam. Tätowierungssalons und Tavernen sind
Hochhäusern aus Stahl und Glas gewichen, und die verbliebenen alten Gebäude
wirken daneben wie zusammengeschrumpft. Zu Museen umfunktionierte Schiffe — die
›Star of India‹ und der Dampfer ›Berkeley‹ — sind Touristenattraktionen.
Restaurants sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Weiter südlich bietet
Seaport Village Vergnügungsparks und Shopping-Gelegenheiten.
Es ist noch immer ein schöner Hafen, einer
der schönsten der Welt. Als ich meinen Wagen geparkt hatte und den Embarcadero
hinunterschlenderte, packte mich plötzlich Wehmut darüber, daß ich die Stadt
verlassen hatte, in der ich zur Welt gekommen war. Ich schaute auf die Bucht
hinaus, und Gefühle aus meiner Kindheit stiegen in mir auf. Die Gerüche waren
dieselben geblieben — es roch nach Fisch, Teer und Salzwasser — und auch die
Wärme der Sonne und der Seeluft, die über meine Haut strich. Ich ignorierte das
Gedränge der Spaziergänger um mich herum und schirmte mich innerlich gegen ihre
Stimmen ab. Einen Augenblick lang hörte ich wieder die portugiesischen und
italienischen Laute der Fischer, die sich über ihre Netze gebeugt hatten. Doch
dann stieß mich ein Kind mit einer Eistüte an und hätte mir fast einen
Schokoladenfleck auf die Jeans gemacht. Das brachte mich mit einem Schlag in
die Gegenwart zurück.
Inzwischen hatte ich den Teil erreicht,
der Tuna Harbor genannt wird. Am Ufer erhob sich ein weitläufiger
Restaurant-Komplex mit Parkplatz. Dann machte der Kai einen Bogen landeinwärts,
um den verbliebenen Teil der Fischereiflotte aufzunehmen. Die Kutter lagen
vertäut an ihren Liegeplätzen. Am Gehsteig standen Bänke, die größtenteils von
Pennern belegt waren. Ich verlangsamte meine Schritte und sah mich nach
Professor Haslett um. Als ich ihn auf der südlichsten Bank entdeckte, war das
für mich wie ein Schock: Er glich kaum noch dem vornehmen, tadellos gekleideten
Gentleman, mit dem ich mich am Heiligabend unterhalten hatte.
Heute ähnelte der Professor eher einem
dieser exzentrischen Typen, denen man häufig am Meeresufer begegnet: weißer
Bart, schäbige Seemannsmütze auf der dichten Mähne, alte Khakihosen und
abgetragenes, blauweiß gestreiftes Hemd. Neben ihm stand offen eine alte
schwarze Brotzeitdose, wie ich sie von Onkel Ed kannte. Er hatte sein kleines
Picknick ausgebreitet: Sandwich, Chips, eine Flasche Guinness Stout. Der
scharfe Blick seiner blauen Augen streifte über die Boote hinweg, und in ihm
stand eine leise Verwunderung darüber, wie es so weit mit unserer
Thunfischflotte hatte kommen können.
Ich blieb vor ihm stehen und sagte:
»Professor Haslett, erinnern Sie sich an mich? Sharon McCone. Wir haben uns
Heiligabend kennengelernt.«
Er sah auf und blinzelte in die Sonne.
»Natürlich, Sie sind Kay McCones Mädchen.«
»Ja.« Für meine Ohren klang es immer
noch fremd, wenn jemand meine Mutter Kay nannte. Als sie Melvin kennenlernte —
sie wusch gerade ihre Wäsche in einer der Münzwäschereien, die ihm gehörten —,
hatte sie sich selbst mit dieser Abkürzung von Kathryn vorgestellt. Sie mochte
Kay lieber als Katie, wie mein Vater sie immer genannt hatte. Die meisten
Menschen in ihrem neuen Leben kennen sie nur als Kay. Wenn ich diesen Namen
höre, überkommt mich manchmal das völlig irrationale Gefühl, sie wollte
vielleicht damit auch alles abstreifen, was bis dahin zu ihrem Leben gehört
hatte, mich und meine Geschwister eingeschlossen. Als ich ihn nun aus dem Mund
des Professors hörte, kamen mir ein paar Zeilen aus einem alten Lied in den
Sinn — es handelte von jemandem, der aus dem Tritt gekommen und aus seiner Zeit
gefallen war. Und weil ich mir nun einmal vorgenommen hatte, den Dingen ihren
Lauf zu lassen, schüttelte ich den letzten Rest meiner Vorbehalte ab. Wenn
meine Mutter Kay genannt werden wollte, dann war das ihre Sache. Mit mir hatte
das überhaupt nichts zu tun.
Professor
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