Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
Zeitpunkt. Du kennst sie doch, du weißt, wie sie ist.«
»Eben. Wir sollten sie einfach in Ruhe lassen. Bestimmt hat sie das Telefon abgestellt, damit wir sie nicht nerven.«
»Nein. Sie muß doch auch für diesen geheimnisvollen Menschen erreichbar sein.«
»Er heißt Trenz.«
»Du kennst seinen Namen!«
»Sie hat ihn mal erwähnt.«
»Wir müssen ihn benachrichtigen.«
»Und dann?«
»Klara trägt einen Sender bei sich. Er kann uns sagen, wo wir sie finden.«
»Wir haben keine Nummer von ihm«, sagte Robin. »Und wahrscheinlich ist Trenz auch nicht sein richtiger Name. Womöglich ist Klara selbst die graue Eminenz, die hinter all dem steckt.«
»Das kann doch wohl nur einem Schriftsteller einfallen!«
»Danke für die Blumen.«
»Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl«, grübelte Hannes. »Wir müssen in ihre Wohnung und in ihren Sachen rumschnüffeln.«
»Dafür wird sie uns die Eier abreißen.«
»Das müssen wir in Kauf nehmen«, sagte Hannes.
Auch für Jonas hatte der Tag noch nichts Gutes gebracht. Atemlos hatte er die Hütte erreicht und war vor der Tür stehen geblieben, um zu verschnaufen. Ein Glück, hatte er gedacht, sie schlafen noch. Aber als er gerade durch die Tür hatte schlüpfen wollen, waren Daniel und sein Schatten Ole um die Ecke gekommen.
»Wo kommst du denn schon wieder her?« rief jetzt Daniel, und ehe Jonas antworten konnte, krähte Ole: »Ey, Alter, schau mal! Der hat sich in die Hose gepißt!«
Im Nu war die ganze Bande wach und amüsierte sich grölend über Jonas’ Malheur. Zwar machte Raphael dem ärgsten Spott rasch ein Ende, und Jonas zog sich in der Hütte frische Sachen an, aber sobald der Gruppenleiter den Jungs den Rükken kehrte, zischelte es »Hosenpisser«, »Baby« und ähnliches.
Nach dem Frühstück, bei dem Jonas keinen Bissen hinunterbrachte, unternahmen sie eine kleine Wanderung. Entgegen sonstiger Gewohnheiten blieb Jonas die meiste Zeit dicht bei Raphael. Zum einen konnte er so dem Spott seiner »Kameraden« entgehen, zum anderen hatte die Szene von heute morgen etwas in ihm verändert. Er hatte das Gefühl, ein Stück erwachsener geworden zu sein. Es war eine Sache, über Wölfe zu lesen, sich Bilder anzusehen oder ihre Spuren zu entdecken. Aber sie in Aktion zu erleben war … er konnte es nicht beschreiben. Er konnte auch nicht darüber sprechen, auch wenn das den Hänseleien möglicherweise ein Ende bereitet hätte. Nein, dieses Geheimnis konnte er nicht teilen, nicht mit ihnen. Vielleicht würde er heute abend seinen Eltern das Bild zeigen und mit ihnen über alles sprechen. Aber erst mußte er die Bilder in seinem Kopf sortieren. Der graue Wolf, der erschrocken vom Blitz der Kamera in seine Richtung gesprungen war, sich dann aber plötzlich, fast noch in der Luft, umgedreht hatte, breitbeinig gelandet war, den Kopf gesenkt, die Nackenhaare gesträubt, ein dumpfes Knurren in der Kehle. Denn da stand noch einer. Ein weißer Wolf. Die zwei Tiere nahmen keine Notiz von Jonas. Sie umkreisten einander, zogen ihre Lefzen hoch, blitzendweiße, spitze Zähne traten hervor. Dann, wie auf ein geheimes Zeichen, sprangen sie sich an, Fetzen von Fell flogen durch die Luft,und sie gaben furchtbare Geräusche von sich. Plötzlich hatte der Graue den Weißen auf dem Rücken vor sich liegen und sein Maul an dessen Kehle. Im nachhinein bereute Jonas, daß er nicht mutig genug gewesen war, die zwei Wölfe bei ihrem Kampf zu fotografieren, aber als der Graue über dem Weißen gestanden hatte, drohend, knurrend, die riesigen Eckzähne bleckend, da hatte seine Angst die Oberhand bekommen, und er war gerannt. Ohne sich umzudrehen, war er nur noch gerannt, bis zur Hütte. Erst da hatte er keuchend innegehalten.
Gegen Mittag kam die Gruppe von ihrer Wanderung zurück und passierte dabei die Stelle in der Nähe des Holzstapels, an der es geschehen war. Und tatsächlich, Jonas sah noch ein paar ausgerissene Haare in den Grasbüscheln hängen, weiße und graue. Mehr weiße als graue. Die anderen bemerkten sie nicht. Er hob ein paar der Büschel auf und steckte sie in die Tasche. Seine Augen suchten das Gebüsch ab. Womöglich lag der weiße Wolf hier irgendwo, tot, oder im Sterben. Das war auch ein Grund, weshalb er nicht redete: diese schreckliche Gewißheit, den weißen Wolf im Stich gelassen zu haben. Er hätte einen Stock nehmen und den grauen Wolf damit schlagen und verjagen sollen, oder er hätte noch einmal den Blitz der Kamera betätigen sollen, um den Grauen
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