Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
leckte sein blutiges Maul. Sie ging zu ihm. Merlin blieb ihr dicht auf den Fersen. Shiva und Ruska waren ebenfalls bei der Beute angekommen. Alle drei begutachteten das tote Tier, beschnüffelten es, aber keiner wagte einen Bissen. Sie schauten Klara an. Die befahl ihnen, sich zu setzen und beugte sich über den Bock. Seine Kehle war vollständig durchgebissen, ein präziser Riß, wie mit einem Messer. Ganz anders als ein Hund, der seine Beute buchstäblich reißt und dabei ein Blutbad anrichtet. Nicht einmal ein Blattschuß streckt ein Reh so rasch nieder, erkannte Klara voller Bewunderung.
Der Rehbock war schmächtig, sein Fell struppig. Die Natur trifft immer die richtige Wahl, dachte Klara und zog ihr Jagdmesser. Es war lange her, daß sie ein größeres Stück Wild aufgebrochen hatte, bisher hatten ihre Schützlinge nur Hasen erbeutet, aber kaum glitt die Klinge durch die warme Bauchdecke, waren ihr sämtliche Handgriffe wieder geläufig. Die vier strichen derweil nervös um Klara und die Beute herum. Ab und zu knurrten sie einander an.
»Ruhe!« befahl Klara. Sie mußte es noch zweimal wiederholen und Shiva mit einem Griff ins Nackenfell zurechtweisen. Allzu verführerisch war der aufsteigende Blutgeruch. Schließlich warf sie ihnen die Eingeweide hin. Drago, der Alpharüde, genoß sein Vorrecht. Zwischen Shiva und Ruska gab es eine kurze Balgerei, bei der Shiva den Sieg in Form des Schlundes davontrug, während Merlin die Leber aus Klaras Hand erhielt. Noch während sie die Brocken hinunterschlangen, steckte Klara das Reh in einen großen Plastiksack, und verstaute es in ihrem großen Rucksack. Es paßte gerade so hinein. Dann suchte sie gründlich den Boden ab. Haare konnten verräterisch sein.
Der Bock war im Gras niedergegangen. Das würde bald wieder aufstehen. Es gab keine Hufspuren und keine Pfotenabdrücke, nur Blut, wo der Bock gelegen hatte. Aber Blut allein sagte nicht viel aus. Sie trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und wusch mit dem Rest ihre Hände. Die vier hatten ihre Mahlzeit beendet. Die Sonne war inzwischen gestiegen, schon badete der Annaturm in Gold. Der Turm am Kamm des Deisters war ein beliebtes Ausflugsziel. Im letzten Sommer war Klara mit den Welpen dort oben gewandert.
»Gott, wie süß! Kleine Schäferhunde!« hatten die Wanderer gerufen.
»Schau mal, junge Huskies! Ach, und der Weiße! Ist der niedlich, wie ein kleiner Eisbär, wie ein Wattebausch! Kann man den auch streicheln?«
Vor allem Kinder schlossen Merlin sofort in ihr Herz. Merlin spielte mit ihnen Fangen, zwickte sie sanft in die Waden, ließ sich hätscheln und tätscheln, und Klara amüsierte sich bei dem Gedanken, wie sich die Mütter wohl verhalten würden, wenn sie wüßten, daß das Tier, das ihren Zöglingen gerade den Rotz von den Backen schleckte, ein sibirischer Wolf war.
Hannes hatte miserabel geschlafen. Der Körper des Mädchens, der ihm zunächst die Einsamkeit vertrieben hatte, war ihm nach der postkoitalen Tiefschlafphase zur Last geworden. Erst gegen Morgen, als ein trübes Licht durch die Jalousie gekrochen kam, war er eingeschlafen. Danach mußte sie gegangen sein, jedenfalls war endlich Platz im Bett, es roch auch nicht nach Kaffee, kein Rauschen der Dusche, kein Geschirrgeklapper, nein, sie war wirklich fort. Jetzt, am Morgen, war die Leere von Bett und Wohnung angenehm. Der Wecker zeigte 9:36. Mit schweren Gliedern stand er auf. Der Bettbezug war verschwitzt, und sein Atem roch faul. Er schlurfte ins Bad, pinkelte, ein saurer Rülpser drängte lautstark ins Freie. Er stützte sich auf das Waschbecken und schaute in den Spiegel.
Richter Johannes Frenzen verkörpert eine unwiderstehliche Mischung aus Charme und Redlichkeit. Diesen ehrlichen Augen, dieser tiefen, vollen Stimme muß man – und vor allem frau – einfach vertrauen. Grundsolide, aber nicht langweilig, ist er ein Mann, wie ihn sich Frauen erträumen. Wahrscheinlich hätte er bei einer Direktwahl gute Chancen, Bundeskanzler zu werden … So ähnlich hatte es neulich in einer Frauenzeitschrift gestanden.Wenn ihn seine Fans jetzt sehen könnten: Tränensäcke, das Weiß der Augen mit einem roten Netz durchzogen, die Wangen stoppelig und bleich wie ein Emmentaler Käse, das braune Haar von etwas Undefinierbarem verklebt. Verständlich, daß das Mädchen schon gegangen war. Er bereute, sie überhaupt mitgenommen zu haben. Das tat er stets, am nächsten Morgen. Aber wenn er gegen Abend, nach zwei oder drei Drehs, in die leere
Weitere Kostenlose Bücher