Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
dies auf Dauer kein Aufenthaltsort für ein schulpflichtiges Mädchen aus Deutschland war, sah selbst Klara ein. Sie willigte ein, die Deutsche Schule in Helsinki zu besuchen. Dort wurde der Unterricht überwiegend in deutscher Sprache abgehalten.
Klara lernte verbissen und schnell. Sie hielt sich vor allen Dingen an die Naturwissenschaften. Mit ihnen ließ sich die Welt erklären, einfach und zuverlässig.
Hartnäckig klammerte sie sich noch heute an ihre kindliche Vorstellung von Finnland als Paradies. Sie verdrängte die Tatsache, daß einen ein finnischer Herbst in den Wahnsinn treiben konnte und ein finnischer Frühling eine fahle Angelegenheit war. Daß Finnland überhaupt die meiste Zeit über fahl und matschig war.
Aber wenigstens hatte man Platz auf dem Land, während man sich hier sogar im Wald ständig auf die Füße tritt, dachte Klara jetzt. Immer wieder blieb sie stehen, spähte und horchte. Merlin blieb nahe bei ihr. Klara hatte früh erkannt, daß Merlin für den Plan nicht geeignet war. Seine Behandlung unterschied sich von der der anderen drei. Außerdem bekam er extra Futterrationen, um die Defizite auszugleichen, die er im Zwinger hinnehmen mußte.
Scheinbar ziellos huschten die anderen drei zwischen Stämmen und Büschen hindurch, aber nie verloren sie den Kontakt zu ihr. Ein leiser Pfiff, eine Geste genügte, um sie in eine Richtung zu dirigieren oder sie heranzurufen. So bewegte sich der kleine Trupp fast lautlos durch den Wald. Es roch nach Moos. Vereinzelt lagen noch winzige Schneereste in dunklen Senken, wie schmutzige, ausgefranste Bettvorleger. Immer mehr Sonnenstrahlen stahlen sich durch das Geäst und ließen die Tautropfen an den Gräsern funkeln. Klara führte ihre Meute am Waldrand entlang. Der Weg rund um den Süllberg, an dem sie sich grob orientierte, war zu konventionellen Uhrzeiten ein beliebter Spazierweg für die Bewohner der umliegenden Orte Bennigsen, Lüdersen und Holtensen.
Sie kamen zu Klaras Lieblingsstelle auf der Westseite. Eichen und Birken schufen hier eine lichte Atmosphäre. Die Birken trugen Knospen an den Zweigen, und ihre Rinden schälten sich wie die Tapeten eines schäbigen Hotelzimmers. Klara trat unter den Bäumen hervor und suchte mit dem Fernglas ihre Umgebung ab. Eine Wiese, ein kahles Feld, die Erde naß und schwer vom Morgennebel, der über dem Acker hing. Säulenartig ragten die Alleebäume, die die Bundesstraße markierten, aus dem Dunstschleier, und dahinter, am Horizont, erhob sich aus dem diffusen Weiß wie ein schlafender Koloß der Deister. Es war still, bis auf ein paar gedämpfte Waldgeräusche. Eine Krähe stieß einen heiseren Warnruf aus, und vor ihr brach ein Sprung Rehe krachend aus dem Unterholz. Klara griff nach Merlins Nackenfell. Die fünf Rehe flogen über die Wiese wie Geister, kaum schienen ihre dünnen Beine den Boden zu berühren. Lautlos nahm Ruska die Verfolgung auf. Das Rudel wechselte die Richtung, vermutlich hatten sie Wind von Shiva bekommen, die sich von der rechten Seite in lässigem Trab näherte. Das Wild rannte auf die Straße zu. Klara hob die Pfeife an ihre Lippen. Ein junger Bock hatte den Richtungswechsel zu spät bemerkt. Er blieb zurück und schlug verwirrte Haken. Rasch vergrößerte sich der Abstand zu seinem Rudel. Shiva wurde schneller. Sie rannte nicht direkt auf das versprengte Reh zu, sondern schnitt ihm den Weg ab. Im selben Moment gab Ruska die Verfolgung des Rudels auf. Beide trieben sie den versprengten Bock vor sich her. Das Tier bewegte sich in weiten Sätzen auf das schützende Dickicht zu, aus dem es zusammen mit den anderen gekommen war. Klara hielt den Atem an. Woher wußten sie, wie sie vorgehen mußten, wer oder was sagte ihnen, was sie zu tun hatten? Einmal mehr war sie fasziniert von diesen Geschöpfen, die sie so gut zu kennen glaubte, und die sie doch immer wieder verblüfften. Merlin winselte. Auch ihn hatte das Jagdfieber ergriffen, sein Körper glich einer gespannten Feder.
Der Bock hatte den Abstand zwischen sich und seinen Verfolgern vergrößern können. Nur noch wenige Meter trennten ihn vom Waldrand. Da schoß Drago aus der Deckung. Mit einem mächtigen Satz hing er dem Rehbock am Hals. Beide überschlugen sich. Dann lag der Rehbock am Boden und Drago stand über seiner Beute, bereit, sie erneut anzuspringen. Aber das war nicht nötig. Ein reflexhaftes Zucken der Beine, dann regte sich nichts mehr. Klara stieß die angehaltene Luft aus. Drago wandte den Kopf in ihre Richtung und
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