Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
und lückenhaft. Nach dem Schrecken in der Tiefgarage hatten sie sich getrennt, Hannes hatte sich um den verunreinigten Wagen gekümmert, und als das erledigt war, hatte er sie angerufen. Pizza bei einem in jeder Hinsicht verschwiegenen Italiener. Dann eine Disko. An alles Weitere erinnerte er sich nur vage. Das Mädchen hatte keine Telefonnummer hinterlassen. Das war seltsam. Immer hinterließen sie sonst ihre Nummern, auf Zetteln, oder, was er besonders haßte, mit Lippenstift auf dem Badezimmerspiegel. Hatte er gestern irgendwie … versagt? Nachdenklich lief er die vier Treppen hinunter. Das dunkle Holz der Stufen und der Lauf des Geländers glänzten wie frische Kastanien. Hannes zog die drei Tageszeitungen aus dem Briefkasten.
Was seinen Kreislauf dann richtig in Schwung brachte, war der Hinweis auf der ersten Seite des Hamburger Abendblatts: Die frühen Urteile des Richter Johannes F. Lesen Sie auf Seite 13 , und beinahe zum Kollabieren brachte ihn die dortige Überschrift: Ist unser liebster Fernsehrichter ein Rassist?
Für den Verfasser des Artikels war das Urteil jedenfalls schon gefällt, das wurde Hannes immer klarer, als er im Aufzug stand und sich mit wachsendem Entsetzen durch den Artikel hindurchkämpfte.
Er ist der Herr des Rechts. Er verkörpert das Wahre und Gute, das Vertrauenswürdige unserer Rechtssprechung. Jeden Nachmittag von drei bis vier fällt Richter Johannes Frenzen seine Urteile. Milde oft, aber immer gerecht. Salomonisch schon beinahe. Ohne Ansehen der Person, blind wie Justitia zu sein hat. Egal, ob arm oder reich, ob jung oder alt, ob Deutscher oder Ausländer. So weit die heile Fernsehwelt. Im richtigen Leben geht es anders zu, auch an deutschen Gerichten. Da sind Richter auch Menschen. Mit Fehlern und Gefühlen. Und die sind nicht immer reinsten Wassers. Natürlich weiß der Fernsehzuschauer, daß der studierte Jurist Johannes Frenzen bis vor wenigen Jahren, im richtigen Leben also, ein verbeamteter Richter am Landgericht Hannover war. Gerade das macht ihn so authentisch. Der Mann spielt keine Rolle, sondern tut das, was er immer schon getan hat: Er spricht Recht. Er urteilt.
Aber hat unsere Ikone der Gerechtigkeit seinerzeit, als es um wirkliche Menschen ging, um wahre Fälle, auch immer so milde und gerecht geurteilt? Da ist zum Beispiel der sechzehnjährige Achmed B.*, deutscher Staatsbürger türkischer Abstammung. Achmed B. lebte in Hannover-Bornum, nicht gerade eine der besten Gegenden, und war, wie er selbst zugibt, nicht immer ein Engel. Weil er einem Mitschüler auf dem Heimweg das Handy raubte, bekam er achtzehn Monate Jugendarrest aufgebrummt. Ohne Bewährung. Vorsitzender Richter war Johannes Frenzen. Und da ist der blonde Sven K.*, zwanzig Jahre alt, Arztsohn aus Bissendorf, einer Gegend, in der sich Hannovers Besserverdienende gerne niederlassen. Er bekam acht Monate für einen Überfall auf einen Supermarkt. Auf Bewährung. Gerecht? Der fünfzehnjährige Russe Wladimir P.* wanderte für ein halbes Jahr in den Jugendknast. Sein Delikt: räuberische Erpressung von Schulkameraden und notorisches Schuleschwänzen. Deutschstämmige Schulrowdys kamen mit ein paar Stunden Sozialarbeit davon.
Tragische Einzelfälle? Mitnichten. Der Redaktion sind weitere Fälle bekannt, in denen sich die Strafen für ausländische oder nicht deutschstämmige Gewalttäter sehr dicht an der Obergrenze des breiten Strafrahmens bewegten, während deutsche Straftäter bei vergleichbaren Delikten eher milde bedacht wurden. Ist das die Gerechtigkeit unseres beliebten Vorzeigerichters?
(*Name ist der Redaktion bekannt).
Hannes bekam Herzrasen. Das wurde kaum besser, als er den Artikel noch einmal am Küchentisch las, langsam, Satz für Satz. Unterzeichnet war das Pamphlet mit dem Kürzel »mika«. Hannes suchte nach dem Impressum. Wer war dieser Schmutzfink, dieser Schmierlappen, dieser dreiste Lügner und Tatsachenverdreher? Mia Karpounis. Eine Frau. Irgendwie enttäuschte ihn das noch zusätzlich. Karpounis? Nie gehört. War das nicht griechisch? Was interessierte sich eine Griechin für straffällig gewordene Türken? Wahrscheinlich eine karriere-geile Schlampe, die sich auf seine Kosten profilieren wollte. Daß ein großes Blatt so etwas überhaupt druckte!
Das Telefon klingelte. Es war Kieferle, der Chef vom Dienst.
»Hast du es schon gelesen?«
»Gerade eben.«
»Und? Erinnerst du dich an die genannten Fälle?«
»Ich bitte dich! Ich habe manchmal sieben, acht Urteile am Tag
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