Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
Wohnung kam, wenn er geduscht, gegessen und mit Barbara telefoniert hatte, dann lag der Abend immer vor ihm wie ein Tunnel ohne Lichtblick. Zuweilen bekam er regelrechte Angstzustände. Dann quälte sich Hannes auf der Flucht vor dem schwarzen Loch entweder die anderthalb Stunden im Feierabendverkehr aus Hamburg hinaus und auf das Gut, oder – und das war weit häufiger der Fall – er fuhr in einem Taxi in eines der angesagten Lokale. Ein paar sprühende, junge Menschen um ihn herum, etwas Alkohol und ein Hauch von Blackys weißem Pulver genügten, um die Gespenster zu vertreiben. Mit dem dritten oder vierten Wodka-Lemon spülte er die letzten guten Vorsätze und Skrupel hinunter.
Natürlich hätte ihn Barbara jederzeit nach Hamburg begleitet. Aber jemand mußte schließlich dafür sorgen, daß der Landsitz nicht verlotterte. Außerdem fiel ihm Barbara nach zwei Tagen in der Wohnung gehörig auf die Nerven. Hier gab es keine Garage, in die er fliehen konnte, um an seinen Autos zu basteln, keinen Garten, der nach Spaten und Heckenschere schrie, keinen Rasen, der gemäht werden mußte. Wenn Robin ab und zu hier sein könnte, das wäre etwas anderes. Mit ihm von Kneipe zu Kneipe zu ziehen, so wie früher, als er ihn in Linden besucht hatte, das vermißte Hannes. Aber auf seine unverbindlichen Angebote – »Wie wär’s wenn du mal nach Hamburg kämst, wir könnten um die Häuser ziehen und saufen wie die Löcher?« – war Robin bis jetzt nicht eingegangen. Steckte Klara dahinter? Wohl kaum. Klara war zu sehr mit sich selbst beschäftigt oder vielmehr mit ihrem verrückten Plan. Manchmal bewunderte Hannes, mit welcher Gelassenheit sich diese Frau über Gesetz und Moral hinwegsetzte. Sie tat, was ihr richtig erschien, der Rest kümmerte sie nicht. Manchmal wünschte er sich, ein wenig so zu sein wie Klara: ein anarchistischer Draufgänger. Das einzige, was er gut beherrschte, war, seine Freundin zu betrügen. Selbst dabei war er kein Überzeugungstäter, kein stolzer Casanova, nur ein kleiner Angstrammler.
Und dann die Sache mit dem Koks. Scheinbar nahmen es alle. Jedenfalls erschreckend viele, man wußte es, obwohl keiner darüber redete. Bei der Vorstellung, es an einem finsteren, schmuddeligen Ort mit einem ebensolchen Dealer zu tun zu bekommen, hatten sich Hannes stets die Haare gesträubt. Aber der Mann, der für Hamburgs Schneekönig Blacky Miehling arbeitete, trat solide auf wie ein Fondsmanager, so daß einem bei den Geschäften das Unrechtsbewußtsein nahezu abhanden kam. Außerdem lieferten sie bequem ins Haus, wie ein Pizzaservice.
Er stellte sich unter die Dusche. Erst heiß, dann kalt. Nachdem er sich rasiert hatte, fühlte er sich schon besser. Der Kaffee blubberte durch die Maschine. Hannes schlüpfte in Jeans und ein frisches T-Shirt. Vier Stockwerke runter und wieder rauf, um die Zeitung zu holen, das würde seinen Kreislauf anregen.
Eine gepflegte Dame um die Vierzig stieg aus dem Lift, eskortiert von zwei Westies mit Halstüchern in türkis und rosa, die vermutlich gerade die Straßen von Hamburg-Eppendorf verunreinigt hatten. Sie grüßte höflich-distanziert. Selten bekam er von einem der Hausbewohner mehr als den der Tageszeit angepaßten Gruß zu hören. Hier war man nicht plumpvertraulich. Wer in diesem Komplex luxuriös renovierter Altbauwohnungen wohnte, hatte etwas erreicht im Leben. Oder geerbt. Jedenfalls war ein Beamter, der zum Nachmittags-Fernsehstar mutiert war, keine Sensation. B-Promis nannte man Leute wie ihn im Medienjargon.
Die Dame mit den Hunden, seine Nachbarin, war Nachrichtensprecherin bei einem öffentlich-rechtlichen Sender, dann wohnte hier noch ein Ex-Fußballnationalspieler, ein Galeristenehepaar, der Chef einer kleinen Fluglinie, ein Senatsmitglied der CDU samt Gattin, ein Delphintrainer, eine Medienkünstlerin und zwei lesbische Studentinnen. Manche Wohnungsinhaber hatte Hannes noch nie gesehen. Mit einer der Studentinnen, Tochter eines Kreuzfahrtreeders, hatte Hannes einmal Kaffee getrunken, als er noch nicht gewußt hatte, daß sie lesbisch war. Jeder lebte sein Inselleben. Nur ab und zu hörte Hannes das mauergedämpfte Kläffen der zwei Westies. Welche Geräusche wohl aus seiner Wohnung in die der Nachrichtensprecherin drangen? War ihr Lächeln heute nicht anders gewesen als sonst? Süffisanter, mit einem Schuß Verachtung? Oder war es nur sein Selbstekel, der ihm das suggerierte? War es letzte Nacht laut zugegangen?
Seine Erinnerung an die Nacht war diffus
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