Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
keine Bohnen, dafür eine Unmenge an Geschirr: Töpfe, Pfannen und alle nur denkbaren Haushaltsutensilien. Man hätte drei Großfamilien damit ausstatten können. Alles stand wild und ungeordnet herum. Sie betrat das große Zimmer, dem Anschein nach ein Wohnzimmer. Ein Erker schien als Arbeitsplatz zu dienen. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch mit einem Bildschirm, rechts und links davon Regale, die bis zum Anschlag vollgestellt waren mit Büchern, Zeitschriften, Computerspielen, Handbüchern, Videokassetten. Dennoch war diese Ecke noch die übersichtlichste. Der Rest des Raumes quoll über vor Möbeln. Ein ausladendes Sofa mit kamillengelbem Velourbezug, ein dazu passender Sessel, verstreut lagen muffig riechende Kissen herum. Es gab eine Kommode und eine schwere Anrichte, auf der Fotos und Vasen standen. Neben der großen Flügeltür zum Balkon ein Regal mit Büchern und Nippes. Ein Kronleuchter baumelte über einem ovalen Tisch, auf dem sich allerlei Gerätschaften versammelt hatten: elegante Salz- und Pfefferstreuer, Serviettenhalter, Kristallschalen. Um den Tisch standen zwölf Stühle. Dennoch war es nicht einfach, einen freien Platz zu finden, denn überall lag irgend etwas. Nasrin zuckte zusammen, als eine Standuhr zu schlagen begann. Das Monstrum wollte gar nicht wieder aufhören zu lärmen. Zehn Uhr. Nasrin bahnte sich einen Weg zur Balkontür und riß sie auf. Sie hatte plötzlich das Gefühl, in diesem Zimmer zu ersticken. Draußen begrüßte sie Geschrei. In der Kastanie machte sich eine Krähe an einem Vogelnest zu schaffen. Winzige Eierschalen lagen auf dem Pflaster, eine Amsel umflatterte den Baum und keifte voller Aufregung. Nasrin klatschte in die Hände und rief: »Hau ab! Gsch, gsch!« Das beeindruckte den Vogel nicht. Er beäugte sie lediglich und schickte sich an, mit der Plünderung fortzufahren. Nasrin kehrte zurück ins Zimmer und ergriff das Nächstbeste, das ihr einigermaßen wurftauglich zu sein schien. Die Krähe flatterte auf, startete aber sogleich einen neuen Angriff in Richtung Vogelnest, als wolle sie signalisieren: Jetzt erst recht.
»Hau ab, du Mistvieh!« Eine Vase zerschellte am Stamm der Kastanie, gefolgt von einer Porzellanfigur und einer Teekanne. Auf dem Pflaster bildete sich ein kleiner Scherbenteppich.
Die Krähe bezog Stellung auf der Spitze der Kastanie und gab einen Laut von sich, der wie höhnisches Gelächter klang. Die Amsel zeterte in einem fort. Erst ein Satz Untertassen mit Goldrand schlug den mörderischen Vogel in die Flucht. Nasrin trat zurück ins Zimmer und wartete hinter der Scheibe, ob der Rückzug nicht nur eine Finte des Vogels war. Für diesen Fall schwang sie bereits eine handliche Zuckerdose in ihrer Rechten. Aber der Vogel ließ sich nicht mehr blicken, und hinter ihr sagte Robin: »Falls du Zucker suchst, in der Küche ist welcher.«
»Ich trinke alles schwarz«, sagte Nasrin und stellte die Dose wieder an ihren Platz.
»Gefällt sie dir?« fragte Robin.
»Wer?«
»Die Zuckerdose.«
»Nein. Dir etwa?«
Robin schaute die Zuckerdose an, als sähe er sie zum ersten Mal. Weiß mit Goldrand, genau wie der Rest des zweiundsiebzigteiligen Geschirrs. Es war nur eines von fünfen, aber das umfangreichste.
»Eigentlich auch nicht«, mußte er zugeben. »Warum hast du eben so rumgeschrien?«
»Eine Krähe wollte das Vogelnest ausplündern.«
»Ich werde demnächst mit ihr abrechnen«, versprach Robin mit gespielt grimmigem Blick. »Komm mit in die Küche, der Kaffee ist fertig.«
Als das Geschepper verklungen war, wartete Klara sicherheitshalber noch ein, zwei Minuten, ehe sie aus der Tür trat. Es knirschte unter ihren Sohlen. Unter der Kastanie sah es aus wie nach einem Polterabend. Sie schaute hinauf zu Robins Balkon.
»He! Bist du übergeschnappt?« rief sie. Keine Antwort. Sie ging in die Hocke und betrachtete die Scherben genauer. Etwas Goldenes blitzte in der Sonne. Klara hatte Robin oft geraten, sich von einem Teil des ererbten Hausrates zu trennen, aber er hatte stets abgewehrt und behauptet, das könne sie nicht verstehen, wie das sei, beide Eltern auf einen Schlag zu verlieren. Anfangs hatte ihr Robin leid getan. Mit der Zeit hatte Klara jedoch gemerkt, daß Robins Trauer ausgesprochen selbstsüchtig war. Er trauerte nicht um die Jahre, die das Schicksal seinen Eltern gestohlen hatte, vielmehr empfand er eine dunkle Wut über seinen eigenen Verlust. Er war nun kein Sohn mehr und gezwungen, erwachsen zu werden. Er fühlte sich nicht
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