Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
nur seiner Wurzeln und seines doppelten Bodens für den finanziellen Notfall beraubt, sondern auch automatisch der Generation angehörig, die als nächstes mit dem Sterben an der Reihe war. Garniert mit einem Schuß Weltschmerz diente ihm diese Gefühlslage als Grund für eine monatelange Schreibblockade. Für Klara war es indessen kein Wunder, daß Robin in diesem vollgestopften Museum da oben depressiv wurde. Wie sollte ein frischer, kreativer Gedanke seine Flügel ausbreiten, wenn er ringsum an erinnerungsbeladenes Gerümpel stieß? Aber Robin mußte sich schon selbst aus diesem Sumpf ziehen. Die Rolle der Samariterin lag Klara nicht, im Gegenteil: offen zur Schau gestellte Schwäche widerte sie an. Menschen an sich widerten sie zusehends an. Je vertrauter Klara mit den Wölfen wurde, desto weniger lag ihr an der Gegenwart von Menschen. Sie war inzwischen froh, ihre eigenen vier Wände zu bewohnen.
Klara begann die Scherben zu sezieren. Das da mußte eine Kristallvase gewesen sein. Und diese drei Teile gehörten zu einer Hummelfigur. Das Hirtenmädchen? Sehr eigenartig. Sie rief noch einmal nach Robin, aber als wieder keine Antwort kam, holte sie selbst Besen, Schaufel und Eimer. Sie genoß das Geräusch, mit dem die Scherben in den Blecheimer fielen. Vielleicht war Robin nicht übergeschnappt, sondern endlich zur Vernunft gekommen. Auch wenn diese Art der Entsorgung nicht ganz in Ordnung war. Ich werde ihm zu seiner Heldentat gratulieren, dachte sie. Auf der anderen Seite des Hofs sah sie Hannes auf den Mietwagen zugehen. Seinen Schritten fehlte die übliche Dynamik. Als er sie bemerkte, blieb er unschlüssig stehen, als wolle er noch etwas loswerden. Klara stellte den Eimer ab und ging zu ihm.
»Na, wieviele Folgen kurbelt ihr heute wieder runter?« fragte sie, obwohl sie das nicht wirklich interessierte.
»Zwei«, sagte Hannes. Er sah mitgenommen aus. Zu viel Alkohol gestern abend?
»Ist was?«
»Das fragst du noch? Hast du den Artikel nicht gelesen?«
»Welchen Artikel?«
»Welchen Artikel. Gestern, im Abendblatt . Hat Robin nichts davon erzählt?«
»Gestern waren keine Zeitungen da. Worum geht es denn?« fragte Klara. Hannes seufzte tief auf, dann lächelte er. Sie waren nur ahnungslos, nicht gefühllos. Seltsamerweise erleicherte ihn das mehr, als er angenommen hatte. Für Hannes war das Zusammenleben auf dem Gut mehr als nur eine Zweckgemeinschaft. Sie waren seine Familie. Robin sein exzentrischer kleiner Bruder, auf den er ein Auge haben mußte, und Klara – ihre Rolle war nicht so einfach zu definieren. Vielleicht die exzentrische Schwester, die man trotzdem mag. So stellte er sich das jedenfalls vor. Hannes war ein Einzelkind, genau wie Robin und Klara. Eine Parallele, die ihm jetzt erst auffiel. Lediglich Barbara stammte aus einer Familie mit vier Kindern, aber sie haßte ihre drei Schwestern.
»Ach, nichts. Was macht dein Wolfs-Projekt?« fragte er.
»Pscht!« Klara legte den Finger an den Mund. »Es sind Hunde. Selbst für mich sind es Hunde. Ich sage Hunde, ich denke Hunde, es sind Hunde. Man muß eine Lüge selbst glauben, sonst funktioniert sie nicht.«
»Ich werd’s mir merken«, sagte Hannes. »Danke für den Tip.« Vielleicht war das genau der Rat, den er in seiner Situation brauchte.
»Was ist los mit dir? Bist du verkatert, oder hat dich die Midlifecrisis in den Klauen?«
Hannes wuße nicht warum, aber im Lauf ihres kurzen Gesprächs hatte sich plötzlich ein Gefühl der Leichtigkeit eingestellt.
»Meine liebe Klara«, sagte er mit gespieltem Ernst. »Ich bin über vierzig. Mein Problem ist nicht mehr die Midlifecrisis, sondern der Tod.«
»Idiot«, lachte Klara und küßte ihn auf die Wange. »Machs gut, alter Sack!«
Es handelte sich um besagten Pulverkaffee, von dem Robin behauptete, er würde ihm am besten schmecken. Dazu gab es leicht angetrocknete Brotscheiben mit Margarine und Himbeermarmelade. Nasrin beschränkte sich auf den Kaffee, während Robin erzählte: »Wir hatten mal eine Krähe hier. Sie war verletzt, Barbara hat sie gefunden und gepflegt. Aber von wegen Dankbarkeit. Es war die Hölle. Das Vieh hat geklaut und alles und jeden angegriffen. Vor allem den Kater. Wir haben sie eingefangen und im Deister ausgesetzt. Einen Tag später war sie wieder hier, munter wie eh und je und zu neuen Schandtaten aufgelegt.« Er wischte sich das Haar aus der Stirn und deutete auf eine Stelle am Haaransatz. »Siehst du hier die Narbe?«
»Ja«, sagte Nasrin, die beim besten
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