Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
noch Nasrin in Gefahr. Nasrin. Er flüsterte ihren Namen und kam sich dabei vor, als begehe er eine Straftat. Dabei starrte er zu ihrem Fenster bis ihm die Augen tränten. Dennoch nahm er die Bewegung wahr. Ein Mann schlich über den Hof, so langsam, als erwartete er bei jedem Schritt, in eine Fallgrube zu treten. Tor und Pforte waren geschlossen, er mußte über den Zaun geklettert sein. Er war dunkel gekleidet und wäre Robin kaum aufgefallen, wenn sich seine Augen nicht während der vergangenen Minuten an die Dunkelheit gewöhnt hätten. Der Mann war nicht sehr groß, und sein Gesicht war das Hellste an ihm. In seiner rechten Hand – es sah aus, als hätte er Handschuhe an – trug er etwas Längliches, Robin konnte nicht erkennen, was es war. Jetzt stand er zwei, drei Meter vor Nasrins Fenster. Das Gästehäuschen hatte keine Außenlampe, alles blieb dunkel. Das heisere Bellen war nun in ein Geheul übergegangen, das jedem, der es nicht gewohnt war, kalte Schauer über den Rükken jagen mußte. Der Eindringling war anscheinend nicht sehr schreckhaft, er schaute sich zwar beunruhigt um, blieb aber, wo er war. Von seinem Platz aus mußte er Nasrin gut sehen können, wenn sie auf dem Bett lag. Und wo sonst sollte sie sich in dem kleinen Zimmer aufhalten? Sie selbst sah ihn bestimmt nicht, es war hell in ihrem Zimmer, sie war dem Mann im Dunkeln schutzlos ausgeliefert. Dieser Gedanke elektrisierte Robin. Das Gewehr. Wo war das Gewehr? Er fand es in der Küche, es lag oben auf den Schränken, wo er es selbst deponiert hatte. Aber wo war die Munition? Das Schränkchen, in dem er sie aufbewahrt hatte, existierte nicht mehr. Es war keine Zeit, danach zu suchen. Er wollte ohnehin nicht schießen, ein Gewehr konnte auch ohne Munition Wirkung zeigen. Robin öffnete die Tür zum Balkon. Der Mann stand nun ganz nah an Nasrins Fenster und spähte durch den Schlitz in der Gardine.
»He! Sie! Was tun Sie da?« schrie Robin.
Der Mann drehte sich um, konnte aber offenbar nicht sofort einordnen, woher die Stimme kam. Er entfernte sich vom Gästehaus. Von unten klang es, als ob Klara ihr Fenster öffnete. Robin kümmerte sich nicht darum, über den Lauf des Gewehrs hinweg rief er dem Mann zu:
»Verschwinde! Oder ich schieße!« Der Mann sah zu ihm hoch und hob den rechten Arm, als wolle er etwas in seine Richtung werfen. Robin umklammerte das Gewehr fester. Der Schuß zerriß die Nacht. Der Gewehrschaft schlug gegen Robins rechten Wangenknochen. Als er sich von Schrecken und Schmerz erholt hatte, schaute er wieder hinunter. Der Mann torkelte ein paar Schritte. Auf den Sekundenbruchteil passend, wie bei einem Theaterstück, schaltete sich die Außenbeleuchtung ein und setzte in Szene, wie er langsam zu Boden ging, wie ein Liegestuhl, den man in drei Abschnitten zusammenklappt. Das Geheul hinter dem Haus schwoll an. Der Schuß dröhnte Robin noch immer in den Ohren, seine Wange brannte. Er hörte nicht, wie Klara aus dem Haus stürzte, er sah nur, wie sie über den Hof rannte, gefolgt von Merlin, wie sie sich über den Mann beugte und dann zu ihm hinaufschaute. In dem Augenblick wurde Robin erst klar, was geschehen war. Was er getan hatte. Dabei war er hundertprozentig überzeugt gewesen, daß das Gewehr nicht geladen gewesen war. Er ließ es fallen und stolperte rückwärts über die Türschwelle. Er hastete aus der Wohnung, die Treppe hinunter, in den Hof.
Klara kauerte neben der Gestalt. Sie schien den Mann zu untersuchen. Jetzt kamen auch Hannes und Barbara in ihren weißen Bademänteln aus der Tür.
»Was ist los?« hörte er Hannes wie durch einen Nebel rufen. Das letzte, was er sah, war Klaras kalter Blick, mit dem sie ihn ansah, und dann Nasrin, die in der Tür des Gästehäuschens stand, in einem weißen Hemd, ihre nackten Füße schienen den Boden kaum zu berühren, ein Kranz aus Licht umgab sie, und sie lächelte ihm zu, ehe alles um ihn dunkel wurde.
IV.
Ein hauchfeiner Nieselregen hatte eingesetzt und trübte den Schein der Lampe über der Haustür. Hannes wähnte sich für Sekunden in einem dieser alten, französichen Kriminalfilme, deren Außenszenen grundsätzlich im Dunkeln und bei Regen spielen. Barbara stand abseits. Barfuß und im Bademantel, hielt sie die Hände vor den Mund gepreßt und starrte mit schreckensweiten Augen auf die beiden Männer, die im milchigen Licht reglos auf dem nassen Pflaster lagen. Klara kniete neben Robin wie eine Pieta mit einem Rentierfell um die Schultern. Neben ihr stand
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