Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
Stellung mißbraucht hat.
»Und wie verhält es sich bei Kioskknackern, Autoklauern und Ladendieben?«
Natürlich. Zielsicher wie eine Schmeißfliege hatte sie die offene Wunde aufgespürt.
»Ich hatte das nicht vor«, flüsterte Hannes. »Ich wollte ein guter Richter sein, wirklich.« Seine Stimme wurde wieder fester: »Aber dann grinst dich in der Verhandlung so ein Typ an, weil er fest damit rechnet, daß ihn die lasche deutsche Justiz mit ein paar Stunden Laubfegen auf dem Friedhof davonkommen lassen wird oder ihm einen erlebnispädagogischen Urlaub in Argentinien spendiert. In solchen Momenten spürte ich den Drang, ihnen zu zeigen, daß es auch anders geht, daß sie hier keinen Freibrief haben, die Gesetze mit Füßen zu treten. Sie können das schreiben oder nicht, es ist mir egal«, beendete Hannes seine Rede. Er fühlte sich erleichtert wie nach einer längst fälligen Beichte. Oder einem Geständnis.
»Warum erzählen Sie mir das?« fragte sie mißtrauisch.
»Vielleicht, weil ich es jemandem erzählen wollte.« Am liebsten hätte er ihr auch noch gesagt, daß sie der einzige Mensch war, dem er bisher davon erzählt hatte, aber das klang zu pathetisch. Selbst mit der Wahrheit durfte man es nicht übertreiben.
»Ich bin Journalistin. Ich kenne kein Beichtgeheimnis«, warnte sie.
Journalistin und eine Verbündete der Springer -Presse. Noch dazu mit einer anachronistischen Gutmenschen-Gesinnung. Sie würde ihn schlachten und ihrer Leserschaft auf dem Silbertablett servieren. Hannes verstand sich im Augenblick selbst nicht mehr. War er gerade dabei, seine eigene Karriere zu zerstören?
Mia Karpounis war noch nicht fertig. »Wissen Sie, für mich hört sich das an wie: Der Angeklagte hatte eine schwere Jugend, seine Mutter war immer so streng zu ihm, deshalb hat er noch heute das Bedürfnis Frauen zu vergewaltigen. «
Daß bernsteinfarbene Augen auch sehr kalt blicken konnten, hatte er bisher nicht beobachtet.
»Das tut mir leid«, sagte er. »Es ist einfach nur die Wahrheit.«
Der Koffeinschub hatte zwar seine Müdigkeit verjagt, nicht aber diese neue Gleichgültigkeit, die ihn auf einmal befallen hatte wie ein Virus.
»Apropos Wahrheit … was ist mit der versteckten Türkin?«
»Das ist Quatsch«, sagte Hannes. »Eine Freundin meiner Lebensgefährtin war ein paar Tage bei uns zu Besuch, das ist alles. Es sollte ein Ablenkungsmanöver für die Presse sein, und ein Test, ob das schlechte Gewissen der Reinecke funktioniert. Aber kommen Sie ruhig vorbei, fotografieren Sie, manipulieren Sie, erfinden Sie Geschichten, das ist doch Ihr Job, nicht wahr?«
Die Frau schloß kurz die Augen und atmete tief durch, als erlebte sie gerade einen Moment der Resignation. Hannes bemerkte die Falten um ihre Augen und die Mundwinkel und ertappte sich bei einem ketzerischen Gedanken: Endlich einmal ein Gesicht .
»Sicher halten sie mich jetzt für ein Scheusal«, sagte er.
»Wieso erst jetzt?« versetzte sie ohne ein Lächeln und fügte hinzu: »Sie brauchen nicht mit mir zu flirten, Herr Frenzen. Ich weiß sehr gut, daß ich nicht zu Ihrer Zielgruppe gehöre.«
Hannes nahm es unwidersprochen hin.
»Aber ich kann Sie trösten. Ich finde Sie zwar eitel und pressegeil, das sind Fernsehleute ja alle, aber um ein richtiges Scheusal zu sein, dafür fehlt es Ihnen an Größe.«
Die Pförtnerloge wurde von einem knappen Dutzend Mädchen umlagert, aus deren Miss-Sixty-Jeans das Etikett ihres Tangaslips heraushing. Sie waren ausnahmslos magersüchtig, hatten dabei aber mindestens Körbchengröße D und Lippen wie Schlauchboote. Sie trugen sich der Reihe nach in eine Liste auf einem Klemmbrett ein. »Melia-Casting« schien das Losungswort zu lauten, und der Einfachheit halber zeigte auch Barbara ihren Personalausweis vor und trug ihren Namen unter die der anderen in eine Liste ein. Andernfalls hätte sie Hannes benachrichtigen lassen müssen, aber wenn es so einfach war, konnte sie ihn ebensogut überraschen.
Ein Schild mit einer roten Leuchtschrift On Air , das von der Decke des Flurs hing, signalisierte Barbara, daß Hannes noch zu tun hatte. Sie hatte keine Lust, sich vor seine Garderobe zu stellen wie ein Groupie, also beschloß sie, in der Caféteria auf das Ende der Dreharbeiten zu warten.
Außer ihr saßen nur drei Männer an einem Ecktisch. Der Kleidung nach – Maurerdekolleté und Schildkappe – gehörten sie zum technischen Personal. Barbara setzte sich in die andere Ecke, dennoch hörte sie unfreiwillig
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