Wofür du stirbst
oder Krankheit oder sonst irgendwas hast. Du hättest gar nicht zur Arbeit gehen müssen.«
Sam erzählte mir von seinem Gespräch mit Cheryl, Audreys Freundin. Sie hatte sich nur ungern geäußert, weil sie zuvor von der Polizei befragt worden war – was mich sehr beruhigte. Das bedeutete, dass man Audreys Verschwinden schließlich doch ernst genommen hatte. Cheryl hatte sich von Audrey gegen Mitternacht im Stadtzentrum getrennt. Audrey wohnte nur ein paar Meter weiter den Hügel hinauf und hatte sich deshalb mit Cheryl kein Taxi teilen wollen. Also war sie alleine die Baysbury Road hinaufgelaufen und hatte noch gesagt, dass sie immer alleine ginge und es nicht weit sei und was schon auf einer so hell beleuchteten Straße passieren sollte? Seitdem hatte Cheryl sie nicht mehr gesehen.
Im Gegenzug erzählte ich Sam von meinen Ergebnissen zur automatischen Nummernschildsuche. Vermutlich hätte ich auch das für mich behalten sollen.
»Wusstest du, dass Colin für die Gemeinde arbeitet?«, fragte Sam.
»Das wusste ich nicht.«
»Ich denke, da konnte er problemlos Nummernschilder klauen.«
Wir saßen schweigend da, mein Kopf dröhnte.
»Wie ging es Audrey, als Cheryl sich von ihr verabschiedete?«, fragte ich schließlich.
»Offenbar gut. Sie war zwar ein bisschen betrunken, aber das waren sie alle. Sie torkelte jedenfalls nicht, sagte Cheryl. Sie war vielleicht ein wenig beschwipst. Wie dem auch sei, nachdem ich bei Cheryl war, bin ich zu Audreys Exfreund gefahren.«
»Du bist zu Vaughn Bradstock gefahren?«, fragte ich. »Und?«
»Er war nicht da. Am Empfang sagte man mir nur, jemand von deiner Einheit sei da gewesen und habe ihm ziemlich viele Fragen gestellt. Danach muss er so außer sich gewesen sein, dass er heimgefahren ist. Ich bin also weiter zu ihm nach Hause, aber niemand hat mir aufgemacht. Draußen stand auch kein Wagen!«
Wir starrten schweigend auf die Straße vor uns. Eine Mutter mit einem Kinderwagen und einem Kleinkind gingen langsam an Colins Haus vorbei in Richtung Stadt.
»Er hat sie«, sagte ich.
»Wer? Vaughn?«
»Nein. Colin.«
»Das können wir aber nicht mit Sicherheit sagen«, antwortete er.
»Ich habe es einfach im Gefühl«, sagte ich. »Und du weißt, dass er dafür sorgen wird, dass sie weder etwas zu essen noch zu trinken bekommt. Wie lange wird sie das überleben, Sam?«
Er sah mich an, doch diesmal wirkte er gar nicht begeistert. »Sie war doch weder deprimiert noch einsam. Du hast doch gehört, was ihre Freundin heute Morgen gesagt hat. Sie war glücklich und hat sich auf den Abend gefreut. Er nimmt doch immer nur – na ja –, du weißt schon.«
»Ich glaube einfach, dass es kein Zufall sein kann, dass er sie kennt, findest du nicht? Ich glaube, er hält sie irgendwo fest und wartet darauf, dass sie stirbt.«
Ich hatte mir überlegt, Sam zu erzählen, was ich heute Morgen herausgefunden hatte: dass Colin am Samstag offenbar in der Grayswood Lane gewesen war, doch damit hätte ich wieder gegen die Vorschriften verstoßen, die ich bereits ignoriert hatte, als ich unbefugt im System recherchierte. Außerdem hatte mich Sam soeben auf eine Idee gebracht. Audrey war nicht depressiv, jedenfalls nicht so wie ich – ohne dass mir tatsächlich bewusst gewesen war, dass es mir sehr schlecht ging, ohne dass ich es benennen konnte. Das war teilweise dem Schock zu verdanken, aber auch meiner Einsamkeit und der Frustration am Arbeitsplatz, das Gefühl abzurutschen, zu verschwinden. Ich schien mich in Luft aufzulösen, ich würde bald nicht mehr existieren, und das würde niemandem auffallen. Und als ich Colin vor dem Haus sah, fielen mir wieder die Dinge ein, die er zu mir gesagt hatte. Mir fielen wieder die Worte ein, die er benutzt hatte – Erlösung – Wahl – Akzeptanz . Es war meine Entscheidung gewesen. Er hatte mich zu nichts gezwungen, was ich mir nicht schon selbst überlegt hatte und tun wollte. Ich wollte, dass alles vorbei wäre, und er hatte gesagt, dass das in Ordnung sei und ich diese Entscheidung fällen dürfe. Ich denke, er gab mir den Mut, diesen Schritt zu gehen. Gewissermaßen die Erlaubnis dazu, falls ich sie überhaupt brauchte. Und er sagte zu mir, dass ich keine Schmerzen haben würde, dass es friedlich, ruhig und zu meinen Bedingungen ablaufen würde. Er sagte mir, dass ich schlafen und nur darauf warten müsste, bis es passierte, und keine Angst zu haben brauchte.
Wenn sich jemand etwas zuschulden hatte kommen lassen, so war das Sam. Er hatte mich
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