Wofür du stirbst
das Licht an meinem Arbeitsplatz ausgemacht und war losgegangen, um meine Tasse abzuwaschen. Als ich zurückkam, stand Kate im Mantel da, und so verließen wir schließlich gemeinsam das Revier, als wäre das ganz normal.
»Ich meine«, sagte ich und keuchte bergauf, »wir hatten nicht einmal eine Hitzewelle, einen besonders kalten Winter oder sonst was in der Art.«
»Oder eine Überschwemmung«, sagte Kate. Mit ihren langen Beinen machte sie mühelos einen Schritt, wo ich zwei machen musste.
»Und wie ich bereits bei der Präsentation sagte, waren nicht alle Toten alte Menschen. Die Frau von heute Morgen war erst dreiundvierzig. Dann war da noch die Frau aus Hampshire – weißt du noch? Die man in Baysbury gefunden hat? Sie war gerade mal einundzwanzig. Gerade habe ich noch eine entdeckt, die erst neununddreißig war.«
»Wie alt bist du noch mal?«, fragte Kate.
»Achtunddreißig.«
Sie schmunzelte. Typisch für jemanden Anfang zwanzig, der vierzig für steinalt hielt.
»Ich kann mir einfach nichts Schrecklicheres vorstellen, als in der eigenen Wohnung zu sterben und dort zu verwesen«, sagte ich leise. Als wir an den automatischen Türen der Apotheke vorbeikamen, genoss ich den kurzen warmen Luftstoß, der von dort nach draußen drang.
»Na ja, du würdest es ja nicht mitbekommen, weil du tot wärst«, sagte Kate.
Ich biss mir auf die Lippen. Stell dir mal vor, das wäre nicht das Ende, hätte ich am liebsten gesagt. Stell dir vor, du müsstest mitansehen, wie dein Körper verwest und wissen, dass niemand weit und breit sich Sorgen macht, weil er dich eine Weile nicht mehr gesehen hat.
»Findest du es nicht seltsam«, beharrte ich und schnupperte sehnsüchtig den Duft, der aus der Bäckerei an der Ecke drang, »dass es niemandem aufgefallen ist? Ich meine, vor allem bei den jüngeren Opfern. Die hatten doch alle Familien, Arbeitskollegen, Freunde. Selbst wenn sie arbeitslos waren, waren sie doch sicher irgendwo registriert, oder? Es ist doch gar nicht so leicht, einfach so zu verschwinden.«
»Das glaube ich auch. Wenn ich ein paar Tage nichts auf Facebook posten würde, würde bestimmt irgendwer Nachforschungen anstellen.«
Wir saßen auf der Mauer und warteten auf den Bus, der zum Park&Ride fuhr. Das heißt, Kate saß auf der Mauer und rauchte, ich lehnte mich nur dagegen.
»Obwohl, wenn man sich nach und nach zurückzieht, würde es nicht so sehr auffallen«, sagte sie nach ein paar Minuten.
»Von was zurückzieht?«, fragte ich.
»Von Facebook oder so. Ich meine, wenn man sich bewusst aus der Öffentlichkeit zurückziehen will, würde man einfach nach und nach nichts mehr auf Facebook posten, oder? Nach einer Weile würde niemand mehr bemerken, dass du verschwunden bist. Oder vielleicht doch, man würde dir vielleicht eine Nachricht hinterlassen; die meisten Facebook-Freunde sind ja keine echten Freunde, oder? Enge Freunde, meine ich. Und die, die wirklich mit dir befreundet sind – na ja, wenn du denen erzählen würdest, dass du weggezogen bist? Oder dass dein Computer kaputt ist oder so? Wie viele Monate würden vergehen, bevor sich jemand ernsthaft Sorgen um dich machen würde?«
»Ich bin nicht auf Facebook.«
Sie hörte mir gar nicht zu. »Trotzdem finde ich, dass es keinen Sinn hat, der Sache weiter nachzugehen. Ob vierundzwanzig Leichen oder vierundfünfzig: Es sind und bleiben Leute, die einfach – eines natürlichen Todes gestorben sind. Jeden Tag sterben Hunderte Menschen. Keiner deiner verwesten Toten wurde laut den Akten ermordet, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es gab einen Fall, bei dem konnte der Gerichtsmediziner die Todesursache nicht mehr ermitteln, aber die meisten sind offenbar eines natürlichen Todes gestorben.«
»Besteht zwischen ihnen irgendeine offensichtliche Verbindung?«
»Sie verrotteten alle vor sich hin und wohnten in Briarstone … ansonsten? Nicht dass ich wüsste.«
»Also gut. Wir sind nun mal Fallanalysten. Man wird uns sagen, dass es nicht unsere Aufgabe ist, uns um gesellschaftliche Missstände zu kümmern. Aber noch viel schlimmer ist«, sagte sie, hüpfte von der Mauer herunter und drückte ihre Zigarette am Mülleimer aus, »dass sie uns nur noch mehr Arbeit aufhalsen werden, wenn sie erfahren, dass wir die Zeit haben, uns mit solchen Themen auseinanderzusetzen.«
»Toll«, sagte ich.
Zur Abwechslung kam mein Bus mal pünktlich um die Ecke. Kate hatte ihren Wagen auf einem anderen Parkplatz in Baysbury abgestellt und musste noch ein
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