Wofür du stirbst
Papiertaschentuch, wischte mir die Augen und putzte meine Nase. Ich konnte gar nicht fassen, dass das alles wirklich passierte. Es fühlte sich so unwirklich an.
Über meinem Kopf hing eine Uhr an der Wand, ich drehte mich um und beobachtete, wie die Minuten vergingen. Es war fast eins. Um halb zwei würde ich jemanden holen.
Um zwanzig nach stand ich auf und streckte mich. Da wurde der Vorhang beiseitegezogen, und Jonathan Lamb war zurück, diesmal mit einer Krankenschwester. Sie warf mir ein warmherziges, mitfühlendes Lächeln zu. »Hallo«, sagte sie.
»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte Jonathan Lamb. »Bitte setzen Sie sich.«
Ich tat wie geheißen, dann verschwand der Arzt erneut und kam kurz darauf mit zwei übereinandergestapelten Plastikstühlen zurück. Er trennte sie, zog sie geräuschvoll über den Linoleumboden und setzte sich. Auch die Krankenschwester nahm Platz. Es war seltsam, ich fühlte mich wie bei einem Verhör.
Er sah in die Patientenakte und auf seine Notizen, dann fing er zu reden an. Ich hörte nur die ersten Worte, die er sagte … »Ich habe schlechte Nachrichten. Ich fürchte …«, danach bekam ich nicht mehr sehr viel mit. Ein Schlaganfall, auch wenn er irgendeine andere Bezeichnung dafür wählte. Er nannte es zerebrovaskulärer Infarkt oder so. Das klang eher nach einer Fehlermeldung, als hätte irgendwer von uns etwas dagegen tun können. Sie hatten erst noch die Ergebnisse eines Scans abgewartet, deshalb hatte es so lange gedauert.
»Hatte sie kürzlich eine Brustentzündung?«
»Was? Oh – na ja, das ist schon eine Weile her. Sie hat Antibiotika bekommen.«
»Ich fürchte, das kommt recht häufig vor. Es tut mir sehr leid.«
Hatte ich den Teil verpasst, an dem er erklärt hatte, was jetzt mit ihr geschehen würde? »Wird es ihr bald besser gehen? Wollten Sie das damit sagen?«
»Nein, ich fürchte, dass sich ihr Zustand nicht bessern wird. Alles, was wir tun können ist, es ihr so angenehm wie möglich zu machen.«
Ich starrte ihn an. Dann sah ich die Krankenschwester an.
»Annabel, soll ich irgendwen für Sie anrufen? Jemanden, der Ihnen beistehen kann?«
»Nein«, sagte ich.
Der Arzt fühlte sich sichtlich unwohl. Ich fragte mich kurz, wie oft er einem Angehörigen schon schlechte Nachrichten überbracht hatte.
»Aber – aber – sie atmet doch noch, oder? Ich verstehe nicht ganz.« Ich sah zum Rollbett und zu meiner Mutter, die regungslos darauf lag, unter der Sauerstoffmaske aber zweifellos noch zu atmen schien. Sie war ganz offensichtlich noch am Leben.
»Sie atmet zwar, ich fürchte aber, dass der abschließende Scan zeigen wird, dass eine Genesung ausgeschlossen ist. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Tut mir wirklich sehr leid.«
Dann schaltete sich die Krankenschwester ein, ihre Stimme klang ruhig. »Wir verlegen sie so bald wie möglich nach oben in die Schlaganfallabteilung. Ich hoffe, Sie müssen nicht allzu lange warten. Dort oben ist es viel bequemer.«
Der Arzt ging. Ich wusste nicht, was ich zu der Krankenschwester sagen sollte, also sah ich sie nur verloren an. Ich fragte mich, ob sie es gewohnt war, völlig benebelte Leute zu empfangen, die mitten in der Nacht von irgendwelchen Hiobsbotschaften geweckt worden waren.
»Wahrscheinlich kann sie Sie hören, wenn Sie mit ihr sprechen«, sagte sie freundlich.
Ich stand wieder auf und zog den Plastikstuhl, den Jonathan Lamb hergebracht hatte, zum Rollbett hinüber. Ich nahm Moms Hand. Sie war warm, ihre Gelenke waren geschwollen von der Arthritis, die sie plagte. »Mom«, sagte ich. »Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich nicht da war.«
Ich kam mir dämlich vor, mit jemandem zu sprechen, der offensichtlich bewusstlos war. Und selbst wenn sie mich hören konnte – was hätte ich sagen sollen? Die Krankenschwester reichte mir ein Taschentuch. Ich putzte mir die Nase.
Ich schloss die Augen, lauschte dem rhythmischen Piepen der Geräte und versuchte in Gedanken allem zu entfliehen. Ich muss bei der Arbeit anrufen, dachte ich.
Ich hörte ein Geräusch und öffnete die Augen, dachte schon, Mom sei aufgewacht und hätte was gesagt, doch sie lag immer noch regungslos da. Die Krankenschwester war gegangen. Als ich wieder das Geräusch hörte, wurde mir klar, dass es von dem Bett nebenan kam, das nur durch einen Vorhang von uns getrennt war.
In den frühen Morgenstunden wurde Mom in die Abteilung für Schlaganfallpatienten verlegt. Es war eine komplizierte Aktion, an der ein
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