Wofür stehst Du?
auf die Minute. Eine Viertelstunde später holte sie mich und einen Reporterkollegen ab. Wir nahmen ein Taxi, das uns kreuz und quer durch die Stadt kutschierte, mussten dann in die Untergrundbahn umsteigen, fuhren ein paar Stationen – und waren wieder in der Nähe unseres Hotels. Von dort ging es zu Fuß weiter, wir hetzten durch das Verkehrsgewühl und steuerten auf einen Mittelklassewagen zu, der an einer Ecke mit laufendem Motor wartete. Am Steuer saß ein schweigsamerMann, der uns nach längerer Fahrt in der Tiefgarage eines Hochhauses absetzte. Der Aufzug brachte uns in eines der oberen Stockwerke, wir betraten einen engen Flur mit vier Türen. Unsere Begleiterin schloss eine davon auf.
Vor uns stand Toni Negri.
»Entschuldigen Sie das Versteckspiel«, sagte er lachend. »Aber es muss leider sein.«
Ich war unsicher, ob er das Ganze nicht nur zu Showzwecken veranstaltete. Vielleicht hatte er das Gefühl, etwas bieten zu müssen für die 5000 Mark, die er vom Stern (in dessen Auftrag wir unterwegs waren) als Informationshonorar verlangt hatte. Ein Vierteljahr zuvor jedenfalls hatte ich ihn schon einmal interviewen können – ganz ohne Versteckspiel. Damals kam ich allerdings allein und hatte auch nur 2000 Mark dabei.
Toni Negri, ein Politikprofessor aus Padua, hatte in den Siebzigerjahren die Zeitung Classe Operaia gegründet und galt als oberster Agitator einer linksextremistischen Gruppe namens Autonomia Operaia , die auch eine gewisse Anziehungskraft auf Genossen in Frankreich und Deutschland hatte, besonders in Frankfurt. Bis heute finden seine Theorien in linken Kreisen Beachtung: Die Empire-Trilogie, die er gemeinsam mit dem amerikanischen Literaturprofessor Michael Hardt verfasst hat, ist zur Bibel der Globalisierungsgegner geworden, und auch Oskar Lafontaine hat sich jüngst als Leser Negris bekannt. Negri war in meinen Augen damals kein Unschuldsengel, zugleich aber Opfer einer der abstrusesten Affären der italienischen Justizgeschichte: Er war unter anderem beschuldigtworden, Gründer und Chef der Brigate Rosse zu sein und die Ermordung des Christdemokraten Aldo Moro geplant zu haben. Diese Anklagen brachen nacheinander in sich zusammen. Aber Negri saß vier Jahre lang in Untersuchungshaft.
In Italien bildete sich eine breite Solidaritätsbewegung, unermüdlich am Leben gehalten von seiner damaligen Ehefrau. Die Partito Radicale setzte ihn 1983 auf ihre Kandidatenliste für die Parlamentswahlen, Negri wurde gewählt – und war deshalb vorübergehend wieder ein freier Mann, geschützt durch die Immunität des Parlamentariers. Die Mehrheit des italienischen Parlaments beschloss schließlich deren Aufhebung. Kurz bevor er erneut verhaftet werden konnte, floh Negri nach Frankreich. Zurück blieben Dutzende tief enttäuschter Gefährten: einmal die Mitglieder der Partito Radicale , vor allem aber jene Intellektuellen, die ebenfalls angeklagt waren und sich mehrmals pro Woche in einem zum Bunker umfunktionierten Gerichtssaal am Foro Italico in Rom verantworten mussten, inzwischen nahezu vergessen von der italienischen Öffentlichkeit.
Ich hatte den Prozess monatelang an jedem Verhandlungstag verfolgt.
Kaum hatten wir mit dem Interview begonnen, stellte Negri mir seine italienische Geliebte in Frankreich vor, die Tochter eines Fabrikanten. Ich sprach ihn auf seine Frau an. Er sagte, dass er ihren »hysterischen Einsatz« für ihn bewundere.
Nun konfrontierte ich Negri mit der Wut seiner Genossen. Er reagierte auf die Vorhalte mal schreiend,mal mit nervös-meckerndem Lachen. Immerhin sagte er den Satz: »Wir alle haben damals gewisse Diskussionen geführt und auch Fehler gemacht.« Ansonsten war von ihm kein Wort der Selbstkritik zu hören. Stattdessen betonte er, wie gut es ihm jetzt in Paris gehe. Und begründete seine Flucht mit dialektischer Spitzfindigkeit: »Ich bin nicht geflohen, ich habe die Freiheit gewählt, was etwas völlig anderes ist als die Flucht.«
Ich sprach ihn auf einen als Mörder verurteilten Terroristen an, der vor Gericht beschrieben hatte, wie Negri ihn einst gefeiert hatte, weil er als 16-Jähriger Autos von Lehrern angezündet hatte. Negri sagte nur: »Aber ich habe ihn doch nicht losgeschickt, die Autos anzuzünden!«
Ich war Mitte zwanzig und kam ernüchtert wie nie von dieser Reportage zurück. Man darf wahrscheinlich nicht einmal von Revolutionären verlangen, dass sie alles vorleben, was sie propagieren, zum Beispiel die Solidarität mit anderen Menschen. Aber
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