Wofür stehst Du?
man kann doch wenigstens erwarten, dass sie nicht das genaue Gegenteil von dem machen, wofür sie mit ihrem Beispiel stehen.
Heute frage ich mich, warum bei mir, der ich in so politischen Zeiten aufgewachsen bin, das politische Interesse seit Langem abgenommen hat. Bin ich nicht geradezu der Prototyp einer ganzen Schicht von Bürgern, die eigentlich nur noch am Rande »Staatsbürger« sind?
Ich bin heute kein Mensch, der ausgeprägte Meinungen hätte. Manchmal fühle ich mich wie Leonard Zelig,Woody Allens Figur, der sich seinem jeweiligen Gesprächspartner so anpasst, dass er von ihm kaum noch zu unterscheiden ist. Ich habe nach einem abendlichen Gespräch mit einem Gewerkschafter größtes Verständnis für dessen Positionen und kann mich am nächsten Tag in einen Neoliberalen einfühlen.
Bin ich vielleicht einfach zu feige, Position zu beziehen? Zu faul? Oder liegt es nicht vielmehr daran, dass ich mich – als Jugendlicher zum Beispiel – politisch so sehr geirrt habe, dass ich mir nun jederzeit vorstellen kann, mich auch in allen anderen Fragen zu irren? Hielten wir nicht zum Beispiel den ZDF-Journalisten Gerhard Löwenthal und seine Sendungen über die DDR seinerzeit für übelste Demagogie? Und müssen wir nicht heute zugeben, dass er mit vielem, was er berichtete, einfach recht hatte? Jedenfalls stelle ich heute fest, dass ich, je länger ich mich mit einem Problem beschäftige, desto unentschiedener in meiner Meinung dazu werde.
Genau dieses Abwägen könnte übrigens die Erklärung dafür sein, dass sich so dauerhaft der Eindruck hält, unsere Generation habe keine Haltung. Die Kämpfe, die wir heute austragen, sind eben nicht so einfach auf den Begriff zu bringen. Aber deswegen nehmen wir sie nicht weniger ernst, und mit Unentschlossenheit und Untätigkeit ist unser Abwägen auch nicht zu verwechseln. Es geht heute nicht mehr so schwungvoll wie früher mit »Mehr Demokratie wagen!« oder »Nie wieder Faschismus!«. Unsere Einstellungen sind komplex, aber das ist mir lieber als dievon jeder Wirklichkeit abgetrennte Gewissheit. Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel hat das sehr schön auf den Punkt gebracht: »Zur Demokratie gehört, Ambivalenz zu ertragen und sie als besonderen Wert des demokratischen Systems zu betrachten.« Ich fürchte, das bleibt auch unser Leitmotiv: Statt Lotta continua heißt es bei uns »Das Abwägen geht weiter!«.
Allerdings habe ich neben Meinungen ja auch Interessen, wie jeder andere. Und je älter ich werde, desto stärker tendiere ich dazu, bei einer Wahl nach meinen persönlichen Interessen zu wählen, denen eines relativ gut verdienenden Familienvaters. Niemals hätte ich das früher getan, und ich fühle mich auch heute nicht wohl dabei. Ich gehöre nicht zu denen, die nur nach ihrem persönlichen Vorteil wählen wollen. Aber ich finde andererseits, dass zunächst einmal jeder für sein eigenes Leben verantwortlich ist, dass Selbstverantwortung, Selbstbestimmtheit und Selbstsorge, wie es der Soziologe Heinz Bude genannt hat, »Lebensführungsideale« sind, denen man entsprechen sollte. Und dass erst, wenn jemand diesen Idealen nicht nachkommen kann, ihm geholfen werden muss.
Und dann ist da noch der Grundverdruss, was alles Politische angeht.
Es gibt leider wirklich kaum Politiker, die mich überzeugen, und ich frage mich, woran das liegt.
Auch gibt es so etwas wie eine vergebliche Suche nach einem politischen Programm, das zu meinem Leben passt. Unter Willy Brandt, dersozialliberalen Koalition: Das war in vielem der perfekte Ausdruck dessen, was ich wollte. Mit weniger möchte ich mich nicht zufriedengeben, aber ich sehe keine Partei, in der das, wofür ich politisch eintreten würde, programmatisch und personell verwirklicht ist.
Da ist auch die seltsame Erfahrung, dass sich nichts ändert: Seit ich Schüler bin, fordern wir zum Beispiel Chancengleichheit, ein gerechteres, besseres Bildungssystem. Wenig hat sich auf diesem Sektor getan, im Gegenteil. Viele Probleme scheinen sowieso mittlerweile unlösbar. Die Gesundheitsreform kommt einem in Deutschland geradezu wie ein Staatszweck vor, den man im Grundgesetz verankern könnte: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Staat, der sein Gesundheitswesen zu reformieren versucht.«
Wobei, je älter man wird, einem das Gesundheitswesen persönlich mehr am Herzen liegt: Bloß empfinde ich eben, wenn ich in der Zeitung etwas über dieses Gesundheitswesen lese, so bohrende Langeweile, dass ich sofort
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