Wofür stehst Du?
dachten an Leukämie, wir kauften H-Milch, die noch vor dem Unfall produziert worden war, wir sahen im Fernsehen den bayerischen Umweltminister Dick, der größere Mengen Molkepulver in sich hineinlöffelte und das mit dem Satz »Des tut mir nix« kommentierte, um zu beweisen, dass jenes Pulver nicht atomar verseucht sei, wie wir alle glaubten. (In der Tat überlebte Dick die Aktion um fast neunzehn Jahre.)
Und wenn wir das herrlich-leuchtende Frühlingswetter draußen sahen, dachten wir nur: Strahlung, Strahlung, Strahlung …
Ich erinnere mich an die Krisensitzungen meiner Redaktion beim Bayerischen Fernsehen , für das ich damals eine Jugendsendung moderierte. Wir bereiteten eine Livesendung vor. Der Autor, der das Material dafür recherchierte, brachte uns mit der Nachricht auf die richtige Betriebstemperatur, er habe am Vortag seine Freundin auf eine spanische Insel ausfliegen lassen; es hieß, dass die radioaktive Strahlung sich dort nicht ganz so verheerend auswirken würde.
Der Clou der Sendung war ein Geigerzähler, mit dem wir immer wieder um die Halle liefen, in der unser Studio lag. So wollten wir den Zuschauern die Bedrohung veranschaulichen. Das Gerät klackerte hysterisch über jedem Grasbüschel, und selbst wenn andiesem Abend auch kundige und beruhigende Wissenschaftler zu Wort kamen, so ist mir in der Erinnerung doch nur dieser Zähler haften geblieben, der wie eine Wünschelrute war.
Vielleicht ist unsere Generation die glücklichste, die je in Mitteleuropa gelebt hat: im beginnenden Wohlstand der Nachkriegszeit geboren, Bürger der ersten stabilen Demokratie in Deutschland, nie einen Krieg erlebt, nie Hunger gelitten, keine Seuchen gekannt …
Aber auf eine seltsame Art sind wir mit der Apokalypse im Nacken aufgewachsen. Immer war und ist da, als Schatten hinter dem täglichen Leben, etwas zutiefst Bedrohliches gegenwärtig, das nie Wirklichkeit wurde. Immer drohte und droht irgendetwas: der Dritte Weltkrieg, das Waldsterben, Ozonloch, Nuklearraketen, Atomkraftwerke, Aids, SARS, BSE, Vogel- oder Schweinegrippe, der Zusammenbruch des Euro, Inflation, von kleineren Desastern ganz zu schweigen, irgendwelchen Killerbienen oder Nematoden im Frischfisch.
Tausend Gefahren, tausend Debatten, immer wieder neu geführt, und tausendmal ist nichts passiert.
Na ja: nichts? Tschernobyl war eine gigantische Katastrophe. Aber das Weltende, das wir uns ausfantasierten, war es nicht.
Woran liegt es, dass wir immer wieder so große Angst haben, ja, dass statt realer Seuchen regelrechte Angst-Epidemien übers Land gehen? Kommt das daher, dass unsere Eltern die reale Apokalypse schon miterlebt hatten, dass sie von ihrer Generation verursacht wurde,dass uns also quasi in den Genen steckt: Es gibt die Möglichkeit, dass jederzeit wieder alles zerstört wird – und wir wären dann schuld?
Oder ist es vielleicht so, dass diese Angst nützlich ist? Hat nicht zum Beispiel der Katalysator den sauren Regen reduziert und so dem deutschen Wald geholfen? Hat nicht die Entdeckung des Ozonlochs zur weltweiten Einschränkung von FCKW geführt und so das weitere Wachsen des Lochs verhindert? Hat also der Alarmismus nicht auch dazu beigetragen, dass keine der gruseligen Befürchtungen wahr geworden ist? Weil er zu größtmöglicher Wachsamkeit, zu einer Sensibilisierung für die Gefahren geführt hat – und am Ende alles Menschenmögliche getan worden ist, um zu verhindern, dass aus diesen Gefahren Realität wurde? Ist es also nicht sogar ein bisschen billig, sich über die permanente Aufgeregtheit lustig zu machen, einfach weil man nur mit permanenter Anspannung der vielen Gefahren Herr werden kann?
Diese Geschichte mutet vielleicht zu witzig an für ein Kapitel, das sich mit dem Untergang der Menschheit befasst. Und doch gehört sie unbedingt dazu. Sie hilft nämlich, eine Frage zu beantworten, die ich mir selbst immer wieder stelle: Sind Bedürfnisse und Begehrlichkeiten in unserer Gesellschaft genau steuerbar? Und wenn ja, können dann auch unsere Ängste genauso von außen beeinflusst werden? Den Hauptdarsteller habe ich anonymisiert, aber jedes Wort ist wahr, auch wenn es gelegentlich so klingt, als habe ein Verschwörungstheoretiker seiner Fantasiefreien Lauf gelassen. Wichtig ist mir anzumerken, dass der Mann, den ich beschreibe, ein ausgeprägtes soziales Gewissen besitzt und gesellschaftliche Prozesse bisweilen weit kritischer begleitet, als man es heute vielen Managern unterstellt.
Es war schon spät am Abend,
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