Wofür stehst Du?
verlegte die Veranstaltung in einen kleineren Nebenraum, und noch bevor ich zu lesen begann, stellte sich heraus, dass sich eigentlich bloß sieben Pforzheimer für mein Buch interessierten. Der Achte war nur gekommen, weil er sich im Kalender vertan hatte: Er erwartete Heiteres aus einem Kochbuch.
Besonders bedrückend war der Abend aber auch noch aus einem ganz anderen Grund. Als wir nach der Lesung eine Weile bei Wein und einem Imbiss beisammensaßen, erzählte eine Frau, die sich als Erzieherin vorgestellt hatte, wie sehr es ihr Lebensgefühl und das der ihr anvertrauten Kinder trübe, dass am Ende des Jahrzehnts in Deutschland kein einziger gesunder Baum mehr stehen werde, aller Wald werde dann gestorben sein, das sei gewiss.
Niemand widersprach dieser Einschätzung, alle schienen sich bereits in ihr Schicksal ergeben zu haben, und für mich war die Prognose noch bestürzender als die Aussicht, noch einmal in einer wie ausgestorbenen Buchhandlung auftreten zu müssen.
Umso erstaunter war ich, als ich nur wenige Monate später einen bayerischen Adligen kennenlernte, der etwas ganz anderes behauptete. Seine Familiehatte südlich von München über Generationen ein Schloss, ein ganzes Dorf und Hunderte Hektar Wald und Wiesen besessen. Schloss und Dorf waren im Laufe der Geschichte verloren gegangen, aber die Ländereien waren weiter in unveränderter Pracht in ihrem Besitz. Dieser Aristokrat, der Biologie studiert hatte, erzählte, als ich mit dem Thema »Waldsterben« anfing, dass bereits sein Großvater und sein Vater von gravierenden Waldschäden berichtet hätten. Zwar könne kein vernünftiger Mensch bestreiten, dass in der Nähe von Industrieanlagen mit hohem Giftausstoß Wälder leiden würden – aber was er in seinen Wäldern feststelle, seien normale, zyklisch auftretende Beschädigungen.
Ich aber hielt damals die Alarmmeldung der Erzieherin aus Pforzheim für glaubwürdiger als die Beobachtungen des Waldbesitzers. Wir waren ja von apokalyptischen Nachrichten dieser Art geradezu angefixt.
Der Höhepunkt all dieser Untergangsfantasien: Das Reaktorunglück von Tschernobyl am 26. April 1986. Ich war in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung , als die ersten Meldungen dazu eintrafen und sich das Gerücht einer größeren Katastrophe langsam (es gab ja noch kein Internet) verbreitete. Zuerst stand, am 29. April, nur eine kleine Meldung im Blatt, wonach in Skandinavien erhöhte nukleare Strahlung festgestellt worden war; unklar bloß, woher die kam. Erst im Laufe des Abends gab es Nachrichten, dass es in einem sowjetischen Reaktor einen Unfall gegeben hatte.
Für unsere Fantasie, was daraus werden könnte, gab es keine Grenzen. In Anwesenheit eines den Kopf wiegenden und immer wieder schwer aufseufzenden Wissenschaftsredakteurs malten wir uns aus, wie es wäre, wenn es zum Durchschmelzen des Reaktors auf die andere Seite der Erde käme. Nicht einmal den Untergang des Gesamtglobus schlossen wir in diesen Stunden komplett aus. In düsterster Stimmung standen wir auf dem Redaktionsflur, ich war gerade aus einer kleinen Konferenz mit dem erwähnten Wissenschaftsexperten gekommen, als sich ein anderer Kollege näherte, der nach dem Stand der Dinge fragte. Ich schilderte ihm, was ich gehört hatte – und er, ein lebensfroher (und kinderloser) Single von damals etwa 35 Jahren, sagte: »Ja, nun, wenn es so kommt, dann kommt es eben so. Ich habe mein Leben gelebt.«
Vier Wochen zuvor war mein ältester Sohn zur Welt gekommen. Wir wohnten damals auf dem Land, in einem alten Bauernhaus, es war ein herrlicher Frühling, die Tage waren warm, der Himmel oft blau, die Sonne schien, die Natur explodierte geradezu. Aber wir gingen mit den Kindern nicht mehr vor die Tür. Wir verboten der anderthalb Jahre alten Tochter, in der Sandkiste vor der Tür zu spielen. Und die Großeltern, die gerade eingetroffen waren, um den neuesten Enkel in Augenschein zu nehmen, wurden angewiesen, sich wie alle anderen die Schuhe draußen vor der Tür auszuzuziehen, damit die schrecklichen Cäsium-Atome aus der Ukraine wenigstens nicht ins Haus gelangten (wo die Kinder auf dem Boden spielten), eine Instruktion, an die sich mein Vater – ohne jedes Verständnis für unsere Panik – praktisch nie hielt, weil ereinfach nicht verstand, wieso wir uns wegen unsichtbarer Teilchen in der Luft dermaßen aufführten. Aber wir dachten nur noch daran, wie sich das nur sehr langsam zerfallende Cäsium-137 im menschlichen Körper festsetzt, wir
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